Das Land der durchlöcherten Städte

Seit 1945 hieß für die deutschen Kommunen das Leitbild immer „Wachstum“. Sie werden sich ein neues suchen müssen

Themen wie Stadtschrumpfung werden von den Städten oft als Bedrohung aufgefasst

Die Prognosen sind düster: immer mehr alte, sterbende Menschen bei immer weniger jungen, die sich um sie kümmern können. Krankenhäuser, die ehemalige Säuglingsstationen zu Sterbezimmern umbauen. Stadtteile, in denen nur noch alte Menschen leben – oder überhaupt niemand mehr.

Doch die Kommunen reagieren zäh auf die Daten von morgen. „Die Diskussion ist sehr angstbesetzt“, sagt Richard Reschl von der Kommunalentwicklung LEG Baden-Württemberg. „Seit 1945 hieß das Leitbild der deutschen Städte immer ‚Wachstum‘.“ Noch heute würden in Deutschland täglich 129 Hektar Fläche neu bebaut. „Themen wie Stadtschrumpfung oder Bevölkerungsweggang werden oft als Bedrohung aufgefasst“, erklärt Reschl die Lethargie vieler Kommunen.

Um den Prozess anzuregen, hatte das Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF 21 Städte aufgefordert, ein Zukunftsszenario für sich zu entwerfen. Das Ergebnis, das unter dem Titel „Stadt 2030“ in diesem Monat vorgestellt wird, zeigt, dass der demografische Wandel regional sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Bild der Städte haben wird.

So kämpft die Stadt Leipzig – ähnlich wie andere Städte des Ostens – schon heute mit einem dramatischen Wohnungsleerstand. 60.000 Wohnungen – darunter ganze Plattenbausiedlungen – stehen leer, aber auch eine große Zahl zum Teil sogar sanierter Gründerzeitvillen ist unbewohnt. Im Stadtplanungsamt ist man entschlossen, den Schrumpfungsprozess als Chance zu begreifen. So sollen leer stehende Häuser in bestimmten Stadtgebieten angekauft und abgerissen werden, um dort gezielt innerstädtische grüne Inseln zu schaffen. „Es geht darum, die verbleibenden Quartiere zu stabilisieren“, erklärt Planungsamtsmitarbeiter Reinhard Wölpert. Ihren Umgang mit der zunehmenden Durchlöcherung der Stadt durch Wegzug, wenig Nachwuchs und Überalterung sieht die Stadt als Leitbild. Arbeitstitel: „Die perforierte Stadt“.

Kaum betroffen von den düsteren Demografieprognosen ist dagegen bisher die Region Stuttgart. Dort wird die Zahl der Einwohner in den nächsten zwei Jahren vorausichtlich sogar noch zunehmen. Doch auch hier liegt unter den 2,6 Millionen Einwohnern der Anteil der über 65-Jährigen bereits bei über 16 Prozent, und es gibt Großwohnsiedlungen aus den 60er-Jahren, die inzwischen fast ausschließlich von alten Menschen bewohnt sind. Stuttgarts Beitrag zum Wettbewerb „Stadt 2030“ ist das Projekt „Scharnhauser Park“. Die ehemalige Wohnsiedlung amerikanischer Streitkräfte wird seit 1993 umgebaut und ist Experimentierfeld für zukünftige Wohnformen. Leitbild: soziale Integration. Das sind Hausgemeinschaften „junger Alter“, die zukünftig länger körperlich und geistig fit bleiben und möglichst lange einen eigenen Haushalt führen wollen, mehr Möglichkeiten des betreuten Wohnens, Wohnformen für Jüngere, die den erwarteten Trend zur Heim- und Telearbeit unterstützen sollen. Aber auch die zunehmend bedeutsamere Gruppe der Zuwanderer und deren individuelle Entwicklung ist eingeplant: mit einem türkischen Altenheim, einem „religiösen Zentrum“ mit Moschee und Kirche und Bereichen „interkulturellen Wohnens“.

Doch letztlich sei das alles nur denkbar, wenn die Menschen bereit seien, Normen und Werte zu überdenken, sagt Städtebauprofessor Reschl, der im demografischen Wandel eine Chance sieht: „Für eine neue Qualtität des bürgerschaftlichen Engagements.“ Es sei dringende Aufgabe der Sozialpolitiker, dazu ein „allgemein tragfähiges Leitbild“ zu entwickeln.

Das Projekt „Stadt 2030“ ist der bisher einzige größere Versuch auf öffentlicher Ebene, sich mit den unmittelbar bevorstehenden Veränderungen stadtplanerisch auseinander zu setzen. Andere Projekte einzelner Kommunen oder des Deutschen Städtetags zur Verbesserung und Anpassung städtischen Lebensraums sind meist auf aktuelle Probleme konzentriert, weniger auf die zukünftigen Bedürfnisse der Gesellschaft. „Das Thema Stadtschrumpfung war viel zu lange tabu“, sagt auch Brunhild Spannhake, Referentin für Bauen und Wohnen im BMBF, die den Wettbewerb begleitet hat. „Es war politisch nicht gut zu verkaufen.“ Der Wettbewerb hat zumindest einen Denkprozess angeregt. Ob der Bund eine Weiterentwicklung der erarbeiteten Szenarien finanzieren wird, ist noch nicht klar. NINA MAGOLEY