Die zwei vom Raketenkiosk

Der Staatsanwalt wird ungeduldig: „Ihr Leben lang haben sie nichts Richtiges auf die Beine gebracht“

aus Münster BARBARA BOLLWAHN

Die beiden Angeklagten würdigen sich keines Blickes. Während der 63-jährige Klaus H. seine Zigarette ausdrückt und Schutz hinter einer Säule im Flur vor dem Gerichtssaal sucht, zündet sich zwei Meter entfernt der 50-jährige Khidir R. eine Zigarette an und kehrt Klaus H. den Rücken zu. Beide achten penibel darauf, dass sie sich nicht zu nahe kommen und sich ihre Blicke nicht zufällig kreuzen. Dabei wollten sie Ende vergangenen Jahres gemeinsam das Geschäft ihres Lebens machen.

Das Einzige, was die beiden jetzt noch verbindet, ist eine Anklage vor dem Landgericht Münster. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz vor. Sie sollen sich gegenüber irakischen Interessenten in Bagdad bereit erklärt haben, in Deutschland Hersteller für rüstungsrelevante Bauteile zu suchen. Bei einem der Teile besteht nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft frappierende Ähnlichkeit zu Bauteilen der Stinger-Rakete, einer schultergestützten Flugabwehrrakete. Klaus H. soll zudem ein Bauschema skizziert haben für einen Raketen-Lenkwaffensuchkopf. Khidir R. soll als Kontakvermittler und Übersetzer fungiert und Musterbauteile illegal nach Deutschland gebracht haben.

Die beiden stammen aus Steinfurt, einer 34.000 Einwohner zählenden Stadt in der Nähe von Münster. Es ist schwer vorstellbar, dass die Achse des Bösen bis in dieses aufgeräumte Städtchen reichen soll, wo der Bürgermeister das Skaten auf dem Bahnhofsplatz auf Schildern verbietet, wo nur von Bäumen herunterfallende Blätter die Gehwege verschmutzen, wo einzig Cafénamen wie „Gnadenlos“ und Flirtparties unter dem Titel „Untreu“ Aufregung versprechen.

Beiden soll bewusst gewesen sein, so wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor, dass ihre Aktivitäten geeignet waren, die irakische Rüstungswirtschaft zu fördern und damit gegen die Resolution 661 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu verstoßen. Ein schweres Verbrechen, dass mit mindestens zwei Jahre Haft geahndet wird.

Wie ein skrupelloser Geschäftsmann wirkt Klaus H. nicht, als er am Mittwoch im Saal 7 des Landgerichts Münster angeklagt ist, eher wie ein Häuflein Elend. H., weiße Haare mit Geheimratsecken, graue Hose, rot-weiß gestreiftes Hemd, blau-grün gestreifte Krawatte und schwarzer Blouson, sitzt mit hängenden Schultern auf seinem Platz. Der Elektriker hat sich in der Vergangenheit erfolglos als selbstständiger Kaufmann durchgeschlagen. Immer wieder hielt er sich mit Teilzeitjobs und Sozialhilfe über Wasser. Beständigkeit zeigte er nur in seinem Alkoholkonsum, der ihm diverse Vorstrafen wegen Trunkenheit am Steuer und Gedächtnisprobleme einbrachte. Weder kann er sich an das Jahr seiner Eheschließung erinnern – „Irgendwann in den 60er-Jahren“ – noch an die Geburtstage seiner beiden Kinder. Als er in den 90er-Jahren Probleme mit der Steuerfahndung nach einem Provisionsgeschäft mit importierten Funkgeräten bekommen hat, ist er „ziemlich am Boden zerstört“ und „irgendwas musste passieren“.

Deshalb beantragt er beim Ordnungsamt einen Gewerbeschein. Der entspricht mehr seiner grenzenlosen Fantasie als seinen Fähigkeiten als Geschäftsmann. Klaus H. will Im- und Export mit Sicherheitstechnik und Wehrelektronik, mit medizinischen Geräten und Lebensmitteln. Woher er, ein Möchtegernkaufmann aus der Provinz, all die Produkte beziehen wollte, verrät er dem Gericht nicht. „Ist nicht schwer ranzukommen“, sagt der Mann mit unsicherer Stimme.

Mit diesem Gewerbe will Klaus H. endlich einen großen Coup landen. Behilflich dabei soll ihm der Inhaber des Kioskes „Prima Shop“ in Steinfurt sein, in dem er gelegentlich einkauft. Besitzer ist der Deutsch-Iraker Khidir R., der den gleichen Vornamen wie der frühere Direktor des irakischen Nuklearwaffenprogramms trägt. Vor geraumer Zeit hatten die beiden über den Verkauf von teuren Funktelefonen in den Nordirak schwadroniert. Doch es blieb bei einem Möchtegerngespräch über den Ladentisch hinweg. Aber jetzt will es Klaus H. wissen und bittet Khidir R. um die Vermittlung von Kontakten. „Die Golfstaaten haben Öl und sind die einzigen, die Geld haben“, erzählt er dem Gericht.

Selbstbewusst und aufrecht sitzt Khidir R. auf seinem Platz. Schwarze Haare mit Halbglatze, Schnauzer, Goldrandbrille, schwarze Bundfaltenhose, weißes Hemd und Snoopy-Krawatte. Auch er vermittelt nicht den Eindruck eines gewissenlosen Ganoven. Er wirkt wie der nette kleine Kaufmann, der stolz darauf ist, es in Deutschland zu etwas gebracht zu haben und der sowohl für die drei Kinder aus seiner ersten Ehe mit einer Deutschen als auch für die zwei Kinder aus seiner jetzigen Ehe mit einer Irakerin sorgen kann. Als junger Mann besuchte er im Irak eine Polizeiakademie, erzählt er dem Gericht zu seiner Biografie. „Ich träumte davon, Polizeichef zu werden.“ Doch Ende der 70er-Jahre habe es „ein paar Probleme“ gegeben, so dass er desertierte, sich nach Polen durchschlug und als Urlauber über den ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie nach Westberlin gelangte und dort Asyl beantragte. 1978 kam er nach Steinfurt. Nach diversen Jobs als Hilfsarbeiter und Selbstständiger übernahm er den Kiosk.

Im Sommer vergangenen Jahres steht Klaus H. wieder einmal bei Khidir R. im Kiosk. Der fragt ihn, was er so treibe. „Ich habe eine Firma für alles mögliche, da kann man alles tun und machen“, brüstet sich Klaus H. Dann geht alles ganz schnell. Khidir R. war Anfang vergangenen Jahres in Bagdad auf einer Konferenz für im Ausland lebende Iraker. „Ich sollte anbieten, wen ich mitbringen kann für den Aufbau des Landes“, erzählt er dem Richter, der manchmal Mühe hat, den ausführlichen Schilderungen des Mannes mit dem starken Akzent zu folgen.

Gegenüber den Irakern stilisiert Khidir R. Klaus H. zum Aufbauhelfer. Er lässt sich dessen Gewerbeschein geben, um ihn nach Bagdad zu faxen. Von dort kommen kurze Zeit später zwei Flugtickets und Khidir R. besorgt für Klaus H. das Visum.

Weder fragt Klaus H. nach den Kontakten des Deutsch-Irakers, noch erkundigt der sich bei seinem Kompagnon nach dessen Angeboten. Doch beide sind fest entschlossen, ein großes Geschäft mit dem Irak zu machen. Klaus H. kontaktiert noch einige Kumpels einer Firma, mit der er einmal zu tun hatte. Auch diese wollen einsteigen in das Geschäft. Dazu geben sie Klaus H. einen maschinengeschriebenen Zettel mit Stichpunkten, die an einen Spionagethriller erinnern: Systemkomponenten, Spezialistenteam, zehn Millionen Dollar Vorauszahlung.

Am 8. Dezember 2002 steigen Klaus H. und Khidir R. in Frankfurt in eine Maschine der königlich-jordanischen Fluglinie nach Bagdad. Das ist der Tag, an dem der Irak den Bericht über seine Rüstungsprogramme vorlegt und Experten umgehend mit der Auswertung beginnen. Seit fast zwei Wochen schon suchen Atominspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde und Spezialisten der UN-Kommission im Irak nach chemischen, biologischen und atomaren Waffenprogrammen. Der US-Aufmarsch für einen möglichen Irakkrieg ist weitgehend abgeschlossen. Tagtäglich wird in den Medien über einen bevorstehenden Krieg berichtet. Als also die Entscheidung über Krieg und Frieden vor der Tür steht, machen sich Klaus H. und Khidir R. auf den Weg, um im Irak das große Geld zu machen.

Die beiden kannten sich vom Kiosk. „Die Golfstaaten sind die einzigen, die Geld haben“, sagten sie

Khidir R. berichtet dem Gericht anschaulich von der Reise. Sie werden mit einem schwarzen Mercedes zu einem Hotel gebracht und treffen sich am Rande der alljährlichen internationalen Industriemesse mit Irakis. Dabei stellt sich Klaus H. als ehemaliger Marineoffizier vor, als Fachmann für „military, civil and security projects“ und brüstet sich, beauftragt worden zu sein, in Argentinien eine Radaranlage aufzubauen. Als die Iraker ein kleines Kugellager, ein Leiterband und andere Bauteile vorlegen und fragen, ob sie diese in Deutschland herstellen lassen können, erklärt sich Klaus H. sofort bereit. Khidir R. ist entsetzt. „Ich gab ihm einen Stoß und fragte, was machst du? Hör auf. Das wird ernst.“ Doch Klaus H. sei nicht zu bremsen gewesen.

Trotz der belastenden Aussagen bleibt Klaus H. bei seiner Version und wiederholt immer wieder, dass nur über die Lieferung von Fleisch und medizinischen Geräten gesprochen worden sei. Da hat sein Anwalt keine Geduld mehr. In einer Pause stößt ihm Khidir R. in die Seite und fährt ihn an „Mensch, erzähl die Wahrheit, wie es war!“ Auch der Staatsanwalt verliert schließlich die Beherrschung. „Wir sind hier nicht in der Stammkneipe an der Ecke oder im Kiosk, wo Sie erzählen können, dass Sie der große Fachmann sind“, zischt er. „Ihr Leben lang haben Sie nichts Richtiges auf die Beine gebracht und immer so getan, dass Sie Ahnung haben.“ Klaus H. lässt den Kopf auf die Brust sinken und ist den Tränen nahe.

Ein Kommunikationselektroniker, den Klaus H. bei der Suche nach geeigneten Firmen um Hilfe gebeten hatte, übergibt die Teile, die er von Klaus H. hatte, der Polizei. Ende Januar werden Klaus H. und Khidir R. festgenommen. Mehrere Wochen sitzen sie in Untersuchungshaft. Nachdem sie ein Geständnis abgelegt haben, werden sie freigelassen.

Nach sechs Stunden Verhandlung steht fest: Das Tun der Angeklagten ist von Größenwahn, Geldgier und Dilettantismus bestimmt. Wegen Zuwiderhandlung gegen das Außenwirtschaftsgesetz werden sie zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. „Es war haarscharf“, sagt der Richter in der Urteilsbegründung. „Egal, was Sie hätten liefern sollen, für Geld hätten Sie es getan.“

Das Gericht wertet zu ihren Gunsten ihre Geständnisse, die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens und die nicht bestehende Wiederholungsgefahr. Khidir R. muss zudem 7.500 Euro Geldstrafe zahlen. Klaus H., der von Sozialhilfe lebt und gelegentlich von seiner 90-jährigen Mutter unterstützt wird, kommt ohne Geldstrafe davon. Das Gericht ist der Meinung, dass er mit der Pflege seiner herzkranken, halbseitig gelähmten Ehefrau genug gestraft ist. Erleichtert stimmen die Angeklagten zu, dass die Bauteile in der Asservatenkammer verstaut werden.