Der lange Endspurt

Vor 2.494 Jahren lief ein Mann von Marathonas nach Athen. Zu den Olympischen Spielen im August laufen 500 Athleten durch eine urbane Peripherie in das Panathinaikon-Stadion. Eine Marathonbesichtigung entlang der legendenumrankten Strecke

VON RICHARD FRAUNBERGER

Der Mensch, so sagen Orthopäden, ist für den Marathon nicht gemacht. Dass sich dennoch die 42,195 Kilometer lange Plackerei zur olympischen Disziplin, gar zum Volkssport entwickelte, ist den romantischen Vorstellungen französischer Philhellenen zu verdanken. Michel Bréal, ein Freund Pierre de Coubertins, diente die Legende um den antiken Boten Pheidippides, als Brückenschlag zwischen den Spielen der Antike und der Moderne: vor 2.494 Jahren, so will es der Geschichtsschreiber Plutarch, rannte Pheidippides von Marathon nach Athen, um den Sieg über die Perser zu verkünden. Bei seiner Ankunft brachte der Läufer die Worte „Wir haben gesiegt“ hervor und fiel tot um.

Mit Bréals Idee, den Marathonlauf als olympische Disziplin einzuführen, folgten bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 die Athleten erstmals der historisch überlieferten Strecke. Ein Kanonenschuss kündete den aus Maroussi stammenden Wasserträger Spyros Louis an. Nach 2:58:50 Stunden lief der Grieche als Erster in das marmorne Panathinaikon-Stadion ein, wo ihn die 70.000 Zuschauer als Helden frenetisch feierten. Nichts hatte sich die junge Nation sehnlicher gewünscht als den Sieg im Marathon.

Im August 2004 kehren die Spiele zurück nach Hause. Etwa 500 Athleten werden ein zweites Mal entlang der historischen Strecke laufen. Geändert hat sich auf ihr nicht viel. Es gibt weniger Bäume und mehr Häuser, kaum noch Eselspfade, eine Menge asphaltierter Zufahrtsstraßen, die Macchia ist spärlicher, die Küste voller Urlauber, und wo immer der Mensch Appetit auf Souflaki verspürt oder schnell einen Ouzo kippen möchte, da finden sich eine Taverne oder ein Supermarkt. In Marathonas, wo das Rennen beginnt, hat bereits das erste Souvenirgeschäft eröffnet, auch wenn Ende April vom olympischen Ministadion noch immer wenig zu sehen ist. Es gibt ein Rathaus, eine Hauptstraße, Frauen in Schwarz überqueren die Straße, und manchmal halten Athener an und bleiben auf einen Kaffee. Tourismus hat in dem kleinen Dorf mit dem großen Namen nie Fuß gefasst.

Kerzengerade verläuft die Straße auf den ersten Kilometern. Man rennt entlang den Ausläufern des Pendeli-Gebirges, mitten durch den ehemaligen Garten Athens. Je nach Jahreszeit ziehen Kohl- und Lauchfelder vorbei. Oder Melonen und Auberginen. Seit dem aus allen Landesteilen Obst und Gemüse in Rekordzeit in die Hauptstadt angeliefert werden, hat der Landstreifen zwischen dem Gebirge und dem Meer an wirtschaftlicher Bedeutung verloren. Flüchtlinge aus Pakistan und dem Pandschab arbeiten heute auf den Feldern, weshalb das Gebiet um Marathonas einen dichten Fahrradverkehr aufzuweisen hat. Nach vier Kilometern zweigt die Strecke zum Grabhügel der gefallenen Athener ab. Frisch begrünt ist der fünf Meter hohe und ziemlich unspektakuläre Erdhaufen, zu dessen Füßen ein Vater mit seinen Kindern Fußball spielt. Läge auf Attika genügend Schnee im Winter, man könnte mit Karacho auf einem Schlitten den Hügel herunterrodeln.

Bei Kilometer 6 erreichen die Marathonläufer Nea Makri. Das von aus Kleinasien stammenden Griechen gegründete Fischerdorf hat seine ärmliche Vergangenheit hinter sich gelassen und ist zum Wochenendausflugsziel der Athener aufgestiegen. Hotels und Bars reihen sich entlang der Promenade. Männer und Frauen mit dunklen Sonnenbrillen trinken schwarzen Kaffee aus kleinen Tassen, und in den Tavernen und Eisdielen warten die Besitzer zuversichtlich auf den Startschuss des Marathons. Seit fast einem Jahr bewegen sich die Bewohner zwischen Baggern und Kabeltrommeln und steigen über aufgeschüttete Erde zum Bäcker. Die einst für eine amerikanische Militärbasis gebaute Straße wurde über weite Teile für die Königsdisziplin verbreitert und mit Gehwegen versehen. Junge Pappeln, Pinien- und Olivenbäume flankieren die Strecke, die ab Kilometer 9 mit leichten Anstiegen gespickt ist. Man rennt vorbei an den Überresten einer Landidylle, in der manchmal Schafe weiden und streunende Hunde durch die Macchia jagen. Euböas Berge sind ein letztes Mal zu sehen, das tiefblaue Meer und Bussarde, die ihre Bahnen ziehen. Vor Rafinas Hafen knickt die Straße landeinwärts ab und führt bergauf, bergab bis nach Athen.

Trotz der Anstiege verspürt man beim Anblick der zeitgenössischen Architektur zuweilen den Wunsch, der Zielgeraden schneller entgegenzulaufen. Pikermi, Pallini, Gerakas – so heißen die Dörfer der urbanen Peripherie Athens, die mit jedem Kilometer enger und enger zusammenwächst und sich ab Pallini zu einer unüberschaubaren Masse aus Häuserblocks, Autos, Antennen und riesigen, auf Dächern montierten Reklameschildern verdichtet. Tavernen und Tankstellen säumen die Straße, man kann Grabsteine und antike Säulen-Imitate erwerben, in Busuki-Lokale einkehren, es gibt etliche Schrottplätze und Kaminofenhersteller, und wo Landschaft übrig geblieben ist, da stehen Olivenhaine neben kleinwüchsigen Weinreben oder Eukalyptusbäume, in deren Schatten manchmal ein Hirte den Autofahrern im Stau hinterherblickt.

13 Kilometer vor dem Ziel erreicht man Agia Paraskevi, eine der 80 Kommunen Athens. Vor 35 Jahren stand hier ein Pinienwald, in den Athener zum Picknick fuhren und auf einem mit Nadeln übersäten Boden saßen. Beim Anblick des Stadtteils fällt es heute schwer, sich labende Menschen im Grünen vorzustellen. Man muss verstehen, wie es zu den Myriaden von uniformen Häuserblocks gekommen ist: Zu einer Zeit, als die Wirtschaft an Liquiditätsproblemen krankte, traf man ungewöhnliche Vereinbarungen. Hausbesitzer überschrieben Bauunternehmen ihre Grundstücke und erhielten als Gegenleistung eine gewisse Anzahl neu erstellter Wohnungen. Ganz Athen ist nach diesem Prinzip entstanden, nach dem selbst heute noch gebaut wird.

Das gilt ebenfalls für das eigentliche Athen, das sich nach 36 Kilometern mit einem Ortsschild ankündigt. Unter Brücken taucht man ab und in einer Häuserschlucht wieder auf, biegt in die Vassilisis Sophias Avenue ein, lässt die US-Botschaft hinter sich, vor der sich zu jedem 17. November die Griechen als Erinnerung an die amerikanische Unterstützung der Militärdiktatur versammeln, rennt am Hilton-Hotel vorbei, das an jedem 17. November während der Demonstration mit Farbbeuteln beworfen wird, und kann dann auf der Vassileos Konstantinou Avenue endlich zum Endspurt ansetzen.

Man muss den Tränen nahe sein, wenn man nach über zwei Stunden urbanem Dauerlauf in das hufeisenförmige, aus leuchtend weißem, pendelischem Marmor erbaute Panathinaikon-Stadion einläuft. Das 200 Meter lange, auch Kallimarmaro genannte Stadion gleicht eher einem Marmortempel, bei dessen Anblick man sich an die Ästhetik der Antike erinnert fühlt. Alte Pinien umwachsen die am Ardittoshügel stehende Anlage, und von einem Teil der Zuschauerränge kann man gar auf die Akropolis blicken. Wie bereits vor 108 Jahren wird man den Einlauf der Athleten von polierten, marmornen Sitzen bejubeln können. Und wie vor 108 Jahren war auch diesmal die Fertigstellung des olympischen Stadions in Verzug. Damals war es das Panathinaikon-Stadion, das nicht rechtzeitig fertig gestellt wurde. Es fehlte an Marmor. Aus dem Stegreif fanden die Gastgeber die Lösung. Wo der Marmor fehlte, brachten sie Holz an und strichen es weiß. Glorreich endeten die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit. Griechenland gewann die meisten Goldmedaillen und ging aus den Wettkämpfen als siegreichste Nation hervor.

Auch dieses Jahr hat Griechenland sein Talent, Probleme im Endspurt zu meistern, unter Beweis gestellt. Aber man schätzt das Land ja nicht seiner Perfektion wegen. Es ist die Einstellung zum Leben, wegen der man Hellas und seine Bewohner mag.