Der poetische Moment des Findens

Die Künstler Petrus Akkordeon und Georg Kakelbeck verlieren braune Briefumschläge in Berlin. Das ist kein Versehen, sondern Programm. Wer die Umschläge findet, hat ein Gedicht und ein kleines Bild als Geschenk. Das besteht aus einem Ausriss, den Rest kann man sich fantasiemäßig denken

Der letzte Sommertag auf der Domäne Dahlem. Der Wind fegt über den zentralen Platz und zerzaust die Mähnen der Pferde in ihren Gattern. Von einem Tisch nimmt die Böe einen braunen Umschlag mit, wirbelt ihn durch die Luft und lässt ihn ein paar Meter weiter wieder fallen.

Jetzt ist zu lesen, was draufsteht: „Verlorenes Gedicht“. Was ist drin? Der Umschlag ist nicht zugeklebt. Tatsächlich, ein Gedicht. Es spielt mit der Sprache, verdreht Pronomen und Verbformen: „Bist Du mir ich/Bist Ich Du Mir/ Bist Mir Du Ich …“ Dazu ein kleines Bild. Ein Anzug, aus einer Reklame ausgeschnitten, der seltsam verloren herumschwebt. Der Dichter und Künstler heißt Georg Kakelbeck.

Er sitzt nur wenige Meter weiter an dem Tisch im Wind des letzten Sommertages und spielt Schach. Sein Gegner ist sein Freund und Partner Petrus Akkordeon. Diese beiden sind der Kunstkampf-Verlag. Sie haben soeben einen Umschlag verloren und freuen sich darüber. Denn sie füllen Umschläge mit Gedichten, Zeichnungen oder Radierungen, um sie zu verlieren. Überall in der Stadt. Normalerweise kommt ihnen der Wind dabei nicht zu Hilfe. Dann sieht „verlieren“ eher so aus: Der Umschlag wird unter den Tisch geklebt, unter einen Stein gelegt, an einem Stromkasten befestigt.

„Es ist der poetische Moment des Findens, der uns wichtig ist“, sagt Akkordeon.

Auf den Umschlägen steht auch eine Mailadresse. Was erhoffen sich die Künstler von einer Antwort? „Es wäre schön, wenn jemand neugierig ist, wer hinter der Aktion steckt. Wenn dadurch Kontakte zustande kommen“, so Akkordeons Wunsch. Seit dem Beginn der Aktion am 20. August ist allerdings nicht viel passiert.

Akkordeon und Kakelbeck lernten sich 1997 an der Universität der Künste (UDK) beim Schachspielen kennen. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Ihre erste gemeinsame Aktion war der Kunstkampf, nach dem dann später auch der Verlag hieß: Um die Wette in einer bestimmten Zeit möglichst gute Bilder malen. Die UDK war auch Ort der ersten Veröffentlichungen des Verlages. Sie wurden mit viel Kleingeld und Geduld am Münzkopierer der Uni erstellt. Die Verbreitung ihrer Kunstwerke war weniger dem Streben nach Ruhm und Ehre geschuldet als einem Bedürfnis: „Irgendwann hat man genug von dem Zeug zu Hause, und dann muss man es verstreuen“, erklärt Kakelbeck.

Und so verstreute der Kunstkampf-Verlag lustig weiter: Die beiden gaben Bücher heraus, etwa einen Roman von Petrus Akkordeon, den nach seiner eigenen Aussage niemand lesen kann, weil er die Regeln der deutschen Sprache missachtet. Sie machten Ausstellungen und vertrieben ihre Bilder als Leporellos.

Ein neuer Umschlag wird weggeweht. Diesmal ist es einer von Petrus. Das Gedicht handelt vom Freundlichsein: „freundlich sein / und / den kopf schütteln / meine Haare / belächeln / das fell deiner katze“. Auf dem Bild ist ein grünes Blatt, auf das der Künstler einen Hasen mit großen Augen und langen Klimperwimpern gemalt hat.

Zwei sehr verschiedene Stile treffen hier aufeinander: Petrus’ Gedicht wirkt nachdenklich und ein bisschen melancholisch, verbreitet aber zugleich Lebensfreude. Freude an einem Leben, in dem es Pferde, Katzen und Tauben gibt. Akkordeon liebt Tiere und lässt sich von ihnen inspirieren. Ansonsten, so sagt er, entsteht seine Kunst daraus, dass er „den ganzen Tag grübelt“.

Georg sagt, dass bei ihm das Schaffen vor dem Überlegen da ist. „Ich mache einfach etwas“, sagt er, „Und dann überlege ich, was dabei herausgekommen ist.“ Er macht gerne von allem möglichst viel. Da passt es gut, Worte und Bilder oft zu reproduzieren und in der Stadt zu verstreuen.

Kunst, da sind beide sich bei aller Verschiedenheit einig, muss einen Erkenntnisgewinn beinhalten. Zunächst für den Künstler selbst, aber hoffentlich auch für den Betrachter. Sie haben keinen didaktischen Ansatz, aber sie sehen ihre Werke als Medium, „wie ein Telefon“.

Ein Umschlag von Georg liegt auf dem Brunnenrand. Eine junge Mutter mit Kind nimmt ihn, öffnet ihn und liest. Georg weiß noch, was der Umschlag enthält: Ein Gedicht, das aussieht wie ein Dreieck. Es beginnt nur mit dem Wort „Sie“ und in jeder Zeile kommen Wörter hinzu. Eigentlich ist es nur ein Satz. Aber dadurch, dass er sich so langsam aufbaut, erhält er viel mehr Bedeutung. Mit dabei ist ein Ausschnitt aus einem Bild. Den Rest kann sich der Betrachter denken. Die junge Frau denkt auch einen kleinen Moment, mit schief gelegtem Kopf, dann legt sie den Umschlag in den Bollerwagen ihres Kindes und geht weiter.

DINAH STRATENWERTH