Warschaus offene rechnungen

Seit jahren bemüht sich Polen in Moskau um eine aufklärung des massakersan 22.000 polnischen offizieren 1940 in Katyn. Doch der Kreml stellt sich stur

MOSKAU taz ■ „Russland hat den mut und die selbstlosigkeit der polnischen widerstandskämpfer immer bewundert“, schrieb Russlands präsident Wladimir Putin in einer botschaft anlässlich des 60. jahrestages des warschauer aufstands an Polens staatschef Aleksander Kwaśniewski. Zum 50. gedenktag hatte Polen Boris Jelzin, den damaligen Kreml-chef, zu den feiern noch eingeladen. Putin erhielt diesmal statt einer einladung eine aufforderung aus dem warschauer außenministerium, sich für die unterlassene hilfe der Sowjetunion zu entschuldigen.

Die Rote Armee stand damals am ufer der Weichsel und wartete, bis die nazis das massaker beendet hatten. Russland tut sich schwer im umgang mit der eigenen geschichte. Das war schon immer so. Unter dem jetzigen Kreml-chef erlebt die legendenbildung indes wieder eine blütezeit. Die antwort aus Moskau überraschte daher auch nicht: „vor dem andenken der gefallenen halten wir es für unangebracht und blasphemisch, in eine öffentliche polemik über diese Angelegenheit zu verfallen“, verlautete aus Russland, das die erinnerung lieber dem vergessen anheimgeben möchte.

Der aufstand ist nicht die einzige offene rechnung, die Polen in Moskau begleichen möchte. Seit jahren kämpft Warschau um eine aufklärung des massakers von Katyn in der nähe von Smolensk im westen Russlands. Diktator Stalin befahl laut ukas vom 5. märz 1940, 22.000 polnische offiziere zu liquidieren, da sie „kompromisslose feinde der sowjetischen autorität“ seien. Außer in Katyn wurden in Charkow, Medno, in Weißrussland und in der Westukraine tausende polen, meist vertreter der intelligenz, ermordet.

In den augen der polen begingen die sowjets im ersten Kriegsjahr des 2. Weltkrieges mit der liquidierung der führungsschicht gezielt einen völkermord, der nach internationalem recht niemals verjährt. 1989 räumte der damalige sowjetische präsident, Michael Gorbatschow, erstmals ein, dass die verbrechen vom geheimdienst NKWD begangen worden waren. Zuvor hatte man die nazis für das massaker verantwortlich gemacht, falsche fährten gelegt und versucht, spuren zu verwischen.

Auch unter Gorbatschow fürchtete sich das zentralkomitee der kommunistischen partei (KPdSU) noch vor einer skrupellosen offenlegung. Seit anfang der 90er-jahre befassen sich immerhin eine russische und eine polnische kommission mit der tragödie. Sie kooperieren aber nicht, da Russland es nicht für nötig hält, die polnische seite über den lauf der ermittlungen zu informieren.

Darüber beklagte sich unlängst der leiter des polnischen instituts für nationales kriegsgedenken, Leon Kieres, gegenüber der wochenzeitung Moskowskije Nowosti. Er lief bei der russischen staatsanwaltschaft auf, als er letzte woche die russischen kollegen um auskunft bat, ob verantwortliche des massenmordes noch am leben seien.

Die staatsanwaltschaft weigert sich, auskünfte zu geben, geschweige denn verfahren einzuleiten. Für sie steht fest, dass die taten verjährt sind und nie als genozid qualifiziert werden konnten. Genau darum geht es den polen aber. Solange im Kreml ein präsident sitzt, der chef des KGB, der nachfolgeorganisation des NKWD, war und der sich bei jeder gelegenheit zur heldenhaften Geschichte dieser terrororganisation bekennt, werden die polen vergeblich sühne verlangen. KLAUS-HELGE DONATH