Im bann des multiballs

Die welt ist eine kugel (Teil 2): In der Weißen Taube in Kreuzberg sorgt Scared Stiff für ablenkung – er ist der abwechlungsreichste flipperautomat aller zeiten

Die musik ist laut, und an der decke hängt das plastikrelief einer jägermeisterpulle

In Kreuzberg 36 herrscht die größte flipperdichte Berlins. Im Kuchen-Kaiser am Oranienplatz steht der schnörkellose, mittelpunktfixierte Attack-from-Mars-flipper, der am letzten wochenende leider defekt war. Der Trinkteufel hat Monopoly zu bieten, ein für ein unbeschwertes intermezzo wie geschaffenes Stern-gerät, und im Franken wartet Rollercoaster Tycoon auf seine erforschung. Doch die krone der flipper-schöpfung steht in der Weißen Taube in der Wiener Straße: Ballys Scared Stiff.

Es ist der temperamentvollste, atemberaubendste und abwechlungsreichste flipper aller zeiten – neben Monster Bash. Elvira, die zierde zahlreicher entzückender horrorramschfilme, die herrscherin der dunkelheit, die bestrickendste und vollbusigste ikone der haarsprayindustrie, präsentiert diesen 1996 maschine gewordenen Traum: I-I-I-I-I-I’m warning you, denn Scared Stiff macht tatsächlich süchtig! Sechs erquickende missionen, mehrere leicht zu erspielende multibälle, eine im aufsatz eingelassene, bedienbare spinne für extrapunkte und -eigenschaften … es ist ein mordsspaß. Und wenn kein fußballspiel auf der großbildleinwand gezeigt wird und keine grölenden wüstlinge den tischkicker umringen, dann ist die Weiße Taube tatsächlich ein ehrwürdiger standort für diese makellose apparatur.

Mit einem halbliterkrug Memminger-bier vom fass für zwei euro siebzig in der hand kann man die erhitzte spielerseele kühlen und entspannt land und leute studieren. In den abendstunden bevölkern gäste mit undurchsichtigen backenbärten, wild gekämmten und geschnürten gesichtshaaren und epischen hautritzereien die kneipe. Die musik ist laut, aber nicht zu laut, die luft angefüllt mit zigarettenrauch. Große hundeleiber schwimmen stumm wie haie durch das beinmeer der gäste. Und über allem hängt das plastikrelief einer riesigen jägermeisterpulle an der decke.

Vor kurzem wurde renoviert, das heißt zentimeterdicke krusten punk- und rockkonzertankündigungen von den Wänden entfernt, schicht um schicht. Verschont blieben allein ein Holyfield-gegen-Tyson-plakat, ein Perceptol- und ein U.K.-Subs-poster. Ungewöhnlich ist die Tafel, die für den Innovationspreis Berlin/Brandenburg 2004 wirbt, und harmlos das menschenskelett, das auf dem grund des sarggroßen fischbeckens ruht.

Arg wird es erst, wenn ein fußball ins spiel kommt – sei es virtuell auf den bildschirmen und leinwänden oder leibhaftig in der holztischarena: dann verwandeln sich die friedfertigen tabak- und biervertilger in ballvernarrte monster. Die bedienung kommt mit dem zapfen nicht mehr nach, und die im herrenklo aufgehängten kicker-bundesligaposter verlieren ihren reiz. Ja, sogar das lustige pissoirspiel, bei dem man mit dem eigenen urinstrahl eine winzige kugel in ein miniaturtor befördern muss … der so genannte harnball.

Nun wird es höchste eisenbahn, sich wieder auf den flipper und das zauberhafte kugelspiel zu konzentrieren. Mit dem ersten ball sollte man mit der spinne die kistenmultiballverlängerung ergattern, das erfordert ein wachsames auge und ein wenig übung. Ist das geschafft, kann man den ball einlochen (linke rampe, dann linke lane). Mit dem zweiten ball holt man sich bei der spinne die coffin-multiballverlängerung, dann wieder einlochen. Wer sich an diesen Fahrplan hält, wird spätestens beim dritten ball sein blaues wunder erleben: terror from the crate, endlose Multibälle, viele viele punkte, leuchtende extrabälle … wake me up when you’re done!

MARC DEGENS

Flipper: „Scared Stiff“ von Bally. Standort: Weiße Taube, Wiener Str. 15, 10999 Berlin-Kreuzberg