Japanerinnen schreien nicht

Crime Scene: Sujata Massey und Barry Eisler begeben sich an die Schnittstelle von zwei unterschiedlichen Kulturen

John Rain schafft sich als Killer seine eigene, einsame Welt jenseits von Gut und Böse

Rei Shimura ist zur einen Hälfte Japanerin und zur anderen Hälfte Amerikanerin. Sie ist von San Francisco nach Tokio gezogen, und obwohl sie die Sprache perfekt beherrscht, wird ihr oft schmerzhaft bewusst, dass sie in ihrer zweiten Heimat nicht wirklich zu Hause ist: „Japanische Frauen schreien nicht“, erklärt ihr die Kosmetikerin Kumiko, während sie ihr mit einem beherzten Ruck ein Büschel Schamhaare auszupft. Als Rei bezahlt, bekommt sie noch einen weiteren dezenten Hinweis auf ihre gemischte Herkunft: „Wir haben zwei Sorten von Bikinizonen-Epilation“, erklärt die Empfangsdame so laut, dass jede Frau im Wartezimmer es verstehen kann: „Miss Kumiko hat mir mitgeteilt, dass sie für Sie die große gebraucht hat. Das heißt, dass es ein bisschen teurer wird.“

Die Schriftstellerin Sujata Massey wurde als Tochter einer Deutschen und eines Inders geboren, verbrachte ihre Kindheit in den USA und hat anschließend in Japan gelebt. Sie weiß also, wie es ist, wenn man nicht ganz dazugehört. Dennoch beschreibt sie in ihren Krimis das Leben an der Schnittstelle von zwei Kulturen mit einem augenzwinkernden, überwiegend freundlichen Blick. „Tödliche Manga“ erzählt jetzt von einem Mordfall innerhalb der japanischen Comicszene. Von einem geheimnisvollen Zeichner über einen androgynen Tänzer bis zu einem Yakuza-Mann gleichen die Figuren des Romans den reduzierten Charakteren eines Mangas, und weil die Handlung – um im eingangs erwähnten Bild zu bleiben – an den Haaren herbeigezogen ist, wirkt zuletzt auch die Beschreibung von Rei Shimuras größtenteils harmlosem Leben zwischen zwei Kulturen etwas oberflächlich.

Im Gegensatz zu Sujata Massey beschreibt der Amerikaner Barry Eisler das Japan der Neunzigerjahre in seinem wuchtigen Debüt „Tokio Killer“ als wirtschaftlich heruntergekommenes und von Korruption zerfressenes Land. Im Mittelpunkt steht der Killer John Rain, den Eisler auf den ersten Seiten als knallharte Mordmaschine vorstellt. Erst nach und nach verleiht er ihm menschliche Züge, indem er ihn zögerlich die Geschichte seines Lebens erzählen lässt.

Sie beginnt mit dem Wort ainoko, zu Deutsch etwa „Halbblut“. Das ist eine der überraschend vielen abfälligen Bezeichnungen, die es in Japan für Menschen wie John Rain oder Rei Shimura gibt, Menschen mit gemischter Herkunft also – und das, obwohl in dem Land von jeher nur ein verschwindend geringer Anteil von Ausländern lebt. John Rain hört es zum ersten Mal, als er in einem Vorort von Tokio in der Grundschule von seinen Mitschülern gehänselt wird. Als Teenager zieht er mit seiner amerikanischen Mutter und seinem japanischen Vater in die USA. Dort wird er als „Schlitzauge“ verprügelt, doch jetzt lernt er, sich zu wehren: „Ich schlug zurück, wenn sie allein und verwundbar waren.“

Das ist seine erste „praktische Lektion im Guerillakampf“, und als er später für den CIA in den Dschungel von Vietnam geht, kann er sie gut gebrauchen. Rain hat sich freiwillig für den Krieg gemeldet, ein Vaterland erhält er durch diesen patriotischen Akt trotzdem nicht. Nachdem er im Auftrag „seiner Regierung“ ein ganzes Dorf massakriert hat, begreift er, dass Menschen wie er nicht zurück in das normale Leben können: „Nicht nach dem, was wir getan haben.“

John Rain geht nach Japan und lässt sich dort von machtbesessenen Politikern für das Einzige bezahlen, das er in seinem Leben gelernt hat: das Töten. So schafft er sich als Killer seine eigene, einsame Welt jenseits von Gut und Böse, in der ihm niemand seinen Platz streitig machen kann. Doch als er sich in die Tochter eines seiner Opfer verliebt und sich inmitten einer weitreichenden politischen Verschwörung wiederfindet, beginnt er zu ahnen, dass er auch dieses selbst gewählte Exil verlieren wird: Für einen Mann wie John Rain gibt es keine Hoffnung und keine Heimat. Das ist finster, aber man liest es gerne.

KOLJA MENSING

Barry Eisler: „Tokio Killer“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz, Bern 2003, 319 S., 19,90 €ĽSujata Massey: „Tödliche Manga“. Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser. Piper, München u. Zürich 2003, 381 S., 14 €