Iskandar soll nicht sterben

Am Ende stand im Urteil, dass Iskandar Ussama Bin Laden getroffen habe. Doch er war nie in Afghanistan

aus Taschkent PETER BÖHM

Manchmal, wenn Leute einen Beruf zu lange machen, nehmen sie die passende Physiognomie dazu an. Die Dame in der Beschwerdestelle des Präsidentenamtes hat ihr Leben lang Bittsteller abgewimmelt, und nun sieht sie aus wie ein Fisch. Ihre Augen blicken starr und ihr spitzer Mund schnappt periodisch nach Luft. Bevor sie zu sprechen beginnt, vergehen endlos erscheinende Pausen. Die Worte entströmen ihr so leise, als sei man durch eine dichte Wand aus Wasser von ihr getrennt. Nachdem sie lustlos in einem Packen Benachrichtigungskarten geblättert hat, sagt sie: „Kommen Sie am Freitag um 10 Uhr wieder, dann kriegen sie Bescheid, ob sie den Vorsitzenden der Begnadigungskommission sprechen können.“

Da die Szene sich in Usbekistan abspielt, wissen alle Beteiligten sofort, dass das Gespräch mit dem Vorsitzenden nicht stattfinden wird. Am Freitag nicht und danach auch nicht. Dennoch wird die junge Bittstellerin in drei Tagen wiederkommen, um den Fisch zu betören, und auch danach mindestens einmal die Woche wie schon in den vergangenen zwei Jahren, bis ihr Bruder begnadigt oder hingerichtet ist. Das Letztere ist wahrscheinlicher.

Alles begann am 21. Februar 1999. Wie alle wichtigen Termine seitdem weiß die unermüdliche Bittstellerin dieses Datum auswendig. An diesem Tag, sagt die junge Frau, hat sie mit einem Schlag erfahren, welche schrecklichen Dinge in Usbekistan passieren.

Als an jenem Sonntag im Februar ein Dutzend maskierte Polizisten mit automatischen Gewehren die Wohnung ihrer Eltern in einem Randbezirk Taschkents stürmt, ist Dilobar 17 Jahre alt. Die Polizisten suchen ihren 24 Jahre alten Bruder Iskandar. Zwei Tage zuvor sind mehrere Bomben vor Regierungsgebäuden in Taschkent explodiert. Die Regierung des zentralasiatischen Landes macht die Islamische Bewegung Usbekistans, eine von den afghanischen Taliban geförderte militante Gruppe, für die Anschläge verantwortlich.

Nicht wenige ernst zu nehmende Beobachter dagegen glauben noch heute, dass die Regierung sie selbst inszeniert hat, um gegen jegliche Opposition vorgehen zu können. In der Folgezeit beginnt eine Kampagne der Regierung gegen alle Muslime, die nicht in den staatlichen religiösen Organisationen registriert sind. Im vergangenen Jahr haben ehemalige hochrangige Polizeibeamte gegenüber der anerkannten International Crisis Group zugegeben, dass sie damals die Anweisung bekommen haben, gläubige Muslime festzunehmen, auch wenn es keine Beweise gibt, dass sie radikalen Gruppen angehören. Bekannt ist auch, dass noch heute wie zu Sowjetzeiten allen Polizeirevieren in Usbekistan vierteljährliche Quoten vorgegeben werden, wie viele Verbrechen sie aufklären müssen. Deshalb neigt die Polizei dazu, Fälle um Unschuldige herum zu konstruieren und sie so lange zu foltern, bis sie ihr Verbrechen gestehen.

Der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Theo von Boven, hat erst im Februar in seinem jüngsten Bericht über Usbekistan festgestellt, dass die Sicherheitskräfte hier „systematisch“ zu diesem Mittel greifen. Vor allem der Keller des für die Polizei zuständigen Innenministeriums und der der KGB-Nachfolgeorganisation SNB in Taschkent sind berüchtigt. Dort arbeiten bezahlte Knochenbrecher, die prügeln, Elektroschocks verabreichen oder die „Gasmaske“ – die Erstickung mit einer Plastiktüte – und die „Schwalbe“ – die Opfer mit hinter dem Rücken gefesselten Händen in die Luft werfen und auf den Boden krachen lassen. Und solche, die drohen, wenn das alles nichts nützt, Mütter, Ehefrauen und Schwestern zu holen und sie vor ihren Opfern zu vergewaltigen.

Dilobar erzählt, dass an diesem Sonntag im Februar ihr ältester Bruder Sanjar, obwohl er selbst beim Innenministerium arbeitet, von der Polizei mitgenommen, für fast ein Jahr eingesperrt und gefoltert wird. Auch ihre Mutter wird verprügelt und ebenso ihr Vater, der in den vier Jahren seitdem mehrere Herzinfarkte hatte.

Ihr Bruder Iskandar kann vor der Verhaftung fliehen, wird jedoch in Tadschikistan festgenommen und im August 2001 nach Usbekistan ausgeliefert. Erst im Februar 2002 bekommt die Familie einen Anruf vom SNB, dass Iskandar in ihrem Keller in der Taschkenter Innenstadt eingesperrt ist. Als Dilobar hinfährt, um Iskandar zu besuchen, erkennt sie ihn nicht wieder. „Seine Haare waren völlig grau, und er stand offensichtlich unter Drogen“, erinnert sie sich. Keinen Moment habe sie daran gezweifelt, dass er unschuldig ist. „Er betet, er ist gläubiger Muslim. Aber ich kenne ihn, er ist kein Verbrecher, er kann niemandem etwas zuleide tun.“

Schon als Dilobars ältester Bruder eingesperrt war und ihre Eltern im Krankenhaus, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich um die Familienangelegenheiten zu kümmern. Zum Studieren hatte sie keine Zeit. Der Iskandar vom SNB zugeteilten Rechtsanwältin ging es jedoch nur ums Geld, merkte Dilobar schnell. Und weil in Verfahren gegen mutmaßliche militante Islamisten Anwälte hier oft sowieso Angst haben, bestimmt gegenüber den Gerichten aufzutreten, riet ihr eine lokale Menschenrechtsorganisation, von ihrem Recht Gebrauch zu machen und selbst als Verteidigerin für ihren Bruder aufzutreten. Dilobar studierte Artikel im Strafgesetzbuch über Mord, Anstachelung religiösen Hasses und Terrorismus. Die Plädoyers, die sie für ihren Bruder halten will, lernte sie auswendig. Außerdem begann sie, bei westlichen Botschaften und Menschenrechtsorganisationen Klinken zu putzen. „Dort habe ich vor allem gelernt, dass man seine Rechte einfordern muss“, sagt sie. „Sie haben mir Selbstvertrauen gegeben.“ Am dritten Tag des Verfahrens gegen ihren Bruder verlangt der Staatsanwalt jedoch, dass sie als Zeugin auftritt – damit sie die Verteidigung ihres Bruders niederlegen muss. Dem Staatsanwalt, sagt Dilobar, ist sie lästig geworden.

Im vergangenen November wurde Iskandar zum Tode verurteilt, und wenn Dilobar heute über das Verfahren spricht, gerät sie immer noch in Rage. Der Richter, sagt sie, stützte sich fast ausschließlich auf das unter Folter erpresste Geständnis ihres Bruders. Dass der Angeklagte dazu gezwungen worden war, interessierte nicht, und dass er es während des Prozesses zurücknahm, auch nicht. Am Ende hieß es im Urteil, dass Iskandar Ussama Bin Laden getroffen habe, obwohl er nie in Afghanistan war, und dass er 1997 und 1998 in einem terroristischen Ausbildungslager in Tschetschenien verbracht habe. Dass der Rektor des Kunstinstitutes in Taschkent, wo Iskandar zum Kameramann ausgebildet wurde, aussagte, er habe in dieser Zeit regelmäßig die Kurse besucht, auch das spielte keine Rolle.

Deshalb ist der Fall von Iskandar Chudaiberganow international bekannt geworden, und Dilobar so etwas wie das Gesicht derer, die sich in Usbekistan für Menschenrechte engagieren. Auf der Tagung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Anfang Mai in Taschkent, die die Nichtregierungsorganisationen nutzten, um das autoritäre usbekische Regime anzuklagen, berichtete sie vom Fall ihres Bruders und forderte ein Moratorium für die Todesstrafe in Usbekistan.

Vor zwei Monaten erst hat ein Mann, angeblich vom SNB, zweimal bei ihren Eltern angerufen und gewarnt, dass schon eine Gefängniszelle für Dilobar bereit sei, wenn sie weiter Stimmung gegen die Regierung mache. Hat sie denn überhaupt keine Angst? „Nein, während der letzten vier Jahre habe ich schon so viel Furchtbares gesehen. Mich kann nichts mehr schrecken.“ Dennoch, meint sie, ist sie bis heute kein politischer Mensch. „Ich kritisiere das Justizsystem, nicht die Regierung.“

Die Wahrheit darüber, was Dilobar überhaupt antreibt, wieso Dilobar sich mit dem System angelegt hat, scheint schlichter. Sie ist von der Unschuld ihres Bruders überzeugt und wollte nicht akzeptieren, dass er zu Unrecht hingerichtet wird.

Schon eine halbe Stunde vor dem Rendezvous mit dem Fisch im Präsidentenamt hat Dilobar versucht, zur Berufungskammer des Obersten Gerichts vorgelassen zu werden. Die Kammer kann das Urteil gegen ihren Bruder aufheben, doch Dilobar scheiterte schon an der Polizeisperre davor. Sofort kommt Bewegung in die Menschen, die fast jeden Tag hierher kommen, um vor der Sperre auszuharren. Eine Frau in einem schmutzigen Kleid und einem Bündel über der Schulter will sich direkt bei den USA beschweren. „Seitdem die US-Soldaten hier im Land sind, sagen unsere Polizisten: Niemand kann sich mehr mit der Polizei anlegen.“ Ein anderer verlor seinen Posten bei der staatlichen Lotteriegesellschaft, angeblich weil jemand das Oberste Gericht bestochen hat. Und der nächste hat gleich direkt den Präsidenten angeklagt, weil der in mehr als 20 Punkten gegen die Verfassung verstößt.

Dilobar hört all den umständlichen Klagen der Wartenden zu, gibt den zwei Männern die Adresse der Menschenrechtsgruppe „Mütter gegen Todesstrafe und Folter“, bei der sie sich inzwischen engagiert, und der Frau die Adresse der US-Botschaft. Natürlich wird man ihr dort auch nicht helfen können. Aber sie steckt den Zettel sorgfältig ein und lächelt, weil ihr zum ersten Mal seit langem jemand zugehört hat.