Der Übergriff auf die Stadt

Graffiti finden kann ja jeder. Doch die feinere Kunst der Straße zu lesen verlangt erfahrene Führung. „Backjumps – The Live Issue“ gilt dem flüchtigen Stand der Dinge zwischen Brooklyn und Wedding

Das Bombing an der Hauswand gehört zum Stadtbild wie HipHop zum Musikfernsehen

von CHRISTOPH BRAUN

„Gesundbrunne“. Das „n“ fehlt noch. Die beiden Aufbauarbeiter im Kunstraum Kreuzberg ziehen die erste Bahn einer Stadtkarte glatt. Berlin City wird hier abgebildet, und der Nordwesten der Innenstadt beginnt den Kartenmeistern von „Backjumps – The Live Issue“ zufolge an diesem stinkenden, grauen, von einem dieser Einkaufspassagen überschatteten Nahverkehrsknotenpunkt. Straßenkunst ist eben eine Angelegenheit der Innenstadt. Genau die wird gezeigt in der Ausstellung, die vergangenen Freitag eröffnet wurde.

Kaum waren die letzten Aerosol-Partikel durch die Fenster verjagt, kamen Architekten, Filmregisseurinnen, und überhaupt: DJ-Taschen. Die nachwachsende Generation in den journalistischen Medien, in Werbung und Städtebau ist eben mit dem Sprühen aufgewachsen. Zumindest gehört für sie das Bombing an Hauswand und S-Bahn ebenso zum Stadtbild wie HipHop zum Musikfernsehen. Gekommen sind aber ebenso zahlreiche Kahlrasierte mit 7/8-Hosen.

Bereits während der Eröffnung wächst die Anzahl von Tags und Aufklebern in den Gängen des Bethanien. „Es geht mir um das Wechselspiel zwischen Drinnen und Draußen“, erläutert Adrian Nabi die Idee hinter „Backjumps – The Live Issue“. Der etwa Dreißigjährige mit der schwarzen Designerbrille erklärt im gleichen Atemzug den Stadtplan von „Backjumps“: „Deshalb hängt hier diese Karte: Wir möchten das Publikum dazu animieren, die Stadt als Galerie zu betrachten. Straßenkunst anzuschauen, die Stadt neu zu entdecken.“

Seit 1994 gibt Nabi die Publikation Backjumps heraus. Sie dokumentiert und reflektiert den Stand der Dinge in Street Art. Wenn auch ein Großteil sowohl der Ausstellenden in dieser „Live Issue“ als auch der Ausgaben des Printmagazins einen Background als „Graffiti“-Writer mitbringe, so handele es sich bei der Street Art inzwischen weit mehr als um Sprühen.

Um einer Einschränkung dieses Geschehens von vornherein vorzubeugen, lehnt Nabi auch den Begriff des „Graffiti“ ab. Der sei zu umfassend, auch East-Side-Gallery-Künstler wie Thiery Noir machten ja Graffiti, jede Schmiererei an Häuserwänden lasse sich unter diesen Begriff subsumieren. Von „Aerosol-Kultur“ redet Nabi lieber: „Aerosol-Kultur ist eine ganze Bewegung. Die Kultur ist in den späten 60ern an der US-Ostküste entstanden. Charakteristisch für sie ist diese Getting-up-Mentalität. Rausgehen, in die Stadt, und dort seinen Namen schreiben. Sich dadurch mit Buchstaben und Farbkombinationen beschäftigen.“ Folglich kann „Backjumps – The Live Issue“ nicht mehr auf Spraydose und Buchstabe beschränkt werden. Auch in Berlin sind zunehmend Aufklebe-Art, Papierfiguren oder 3D-Tags zu sehen. Aerosol-Kultur vermehrt also ihre Methoden. Die Aneignung einer von Konsumbotschaften übersäten und von architektonischen Biederkeiten geprägten Stadtlandschaft nehmen die Akteure aus der Geschichte der Aerosol-Kultur mit. Ein Beispiel dafür ist Swoon. Die Künstlerin gehört zum Brooklyner Kollektiv „Toyshop“. Für „The Live Issue“ zeigt sie ihr Projekt „Indivisible Cities“: Über die Erde verstreut lebende Künstlerinnen und Künstler schicken sich gegenseitig Objekte, Papierschnitte und Aufkleber zu.

Rausgehen, in die Stadt: Angesichts des Grundgedankens dieser Bewegung kann ihre internationale Mobilität nicht verwundern. „Das Projekt zieht viele Straßenkünstler an. Die Leute in Dänemark, Schweden, Frankreich, Holland, auch in den Staaten, die wissen nicht nur davon, manchmal habe ich das Gefühl, dass dort mehr darüber berichtet wird als in Westdeutschland“, sagt der in Berlin aufgewachsene Nabi über den Besucherstrom an diesem ersten Wochenende.

Auch die Größen der Szene hätten „Backjumps – The Live Issue“ im Auge, sofern sie nicht selbst daran teilnähmen. „BBC zum Beispiel, die sprühten schon in den 80ern an der (nach der Metro-Station benannten, d. Verf.) Stalingrad Wall Of Fame in Paris. Die habe ich auch damals hierher eingeladen mit dem Ergebnis, dass sie auch Berlin sehr mit ihrem Stil geprägt haben“, kommentiert ein glücklicher Ausstellungsmacher seine Auswahl.

„Backjumps – The Live Issue“ greift auf die gesamte Stadt über. Am 31. August wird in der Galerie „Urban-art.info“ in der Brunnenstraße ein zweiter Teil eröffnet, sodass zwischen Kreuzberg und Mitte fortan Spaziergänge, begleitet von Insidern mit geschultem Blick und Erfahrung im Spurenlegen, eine ganze Route erschließen können.

Das Wuchern von Namen und Botschaften, das bereits in Gang gesetzt ist, wird von den Kartenmeistern akim_one und ZAST dokumentiert. Beide zählen zu den Berliner Größen der Aerosol-Kultur und leiten längst Workshops wie vergangenen Sonntag vor dem Bethanien. In die Karte im Bethanien tragen sie jeden Fund ein, den sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt erblicken können. Jeder Methode wie Sprühen oder Kleben wird dafür ein Logo zugeordnet. Es zählt zur Ethik ihrer Kunst, dass dabei nicht nur die Teilnehmer der Ausstellung berücksichtigt werden.

Backjumps – The Live Issue. Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. Mariannenplatz 2. Dienstag bis Sonntag, 12 bis 19 Uhr. Ab 31. August: „The Beauty Is The Act“. Urban- art.info, Brunnenstraße 171. Do. und Fr. 17 bis 20 Uhr. Sa. und So. 15 bis 20 Uhr. Jeweils bis 5. Oktober