Vom Glück in Gummistiefeln

Die verlorenen Gärten von Heligan und das Eden Project in Cornwall sind Ausdruck der britischen Liebe zu Blumenzwiebeln und Rasenpflege. Die Größe der Grünflächen ist beeindruckend: Über 100.000 Pflanzen repräsentieren allein in Eden 5.000 Arten

„Jedes Beet, jeder Baum, jedes Gewächshaus erzählt Geschichten“

VON STEFANIE BISPING

Sogar die Rotkehlchen wirken hier merkwürdig zutraulich. Ihr Gezwitscher mischt sich mit dem Blöken von Schafen und dem fernen Murmeln von Geistern aus dem vergangenen Jahrhundert. Auf der Rückwand eines Häuschens im Melonengarten verewigten sich die Gärtner von Heligan, bevor sie 1914 eingezogen wurden. Die meisten der Namen finden sich im nahen St. Ewe wieder – auf einem Kriegsdenkmal.

Gegenüber dem Sonnenuhrengarten liegt der Friedhof der Haustiere, mit schiefen Grabsteinen für Hunde, die im 19. Jahrhundert hier spielten. Dazwischen bilden der italienische Garten, ein Blumen- und Küchengarten, ein georgianischer Ananasgraben, 180 Jahre alte Bäume aus Nepal, ein Wunschbrunnen, eine Grotte, an deren Decke Kristalle funkeln und „Neuseeland“ – eine botanische Miniatur dieses entlegenen Teils des Empires – ein Universum, das seine Besitzer unabhängig machte vom Rest der Welt. Südlich des Herrenhauses führen die Terrassen des „Dschungels“, einer um Teiche angelegte Wildnis aus subtropischer Vegetation, und das „verlorene Tal“ zur Küste und dem Fischerdorf Megavissey hinab.

Heligan, im 12. Jahrhundert erstmals erwähnt, ist ein verwunschener Ort mit so dichter Atmosphäre, dass unlängst ein Priester herbeigerufen wurde, um etwaige Geister zu exorzieren. Zuvor hatten die Berichte über schwebende Blumentöpfe und Raunen aus dem Dickicht überhand genommen.

Gut 70 Jahre Zeit hatte die Natur, um an den Gärten von Heligan ein Exempel zu statuieren. Nach dem Ersten Weltkrieg vermietete die Familie Tremayne ihr Haus, bevor sie es verkaufte und es schließlich in Wohnungen unterteilt wurde. Das Grundstück, das einstmals von 22 Gärtnern gehegt wurde, blieb in all der Zeit sich selbst überlassen. Als der gebürtige Niederländer Tim Smit 1990 zusammen mit dem verzagten Erben John Willis einen Blick auf das Areal rund um den Herrensitz werfen wollte, mussten die beiden sich den Weg mit Macheten frei schlagen. Die Gärten, für deren Glanzzeit drei ambitionierte Generationen der Tremaynes im 19. Jahrhundert verantwortlich waren, lagen unter einer meterdicken Schicht aus Efeu, Brennnesseln, Brombeeren und himmelwärts geschossenen exotischen Büschen und Bäumen, scheinbar auf ewig verloren – aber auch unberührt von den gärtnerischen Ideen des 20. Jahrhunderts, die so viele der alten Gärten Cornwalls entscheidend verändert haben.

Smit erkannte die Romantik eines Vorhabens, das andere vielleicht als irrsinnig bezeichnet hätten. Vor seinen Augen stieg ein schon etwas verblichenes, sepiafarbenes Bild aus viktorianischen Tagen auf, die Momentaufnahme einer Vergangenheit, die – wer weiß, wie lange noch erkennbar? – unter der Wildnis verborgen lag. Mit Hilfe vieler Sponsoren, der detektivischen Fähigkeiten englischer Gartenexperten, des erhaltenen Journals des Head Gardeners, 250 ausgegrabenen Blumenetiketten aus Zink und Blei sowie einer großen Zahl Freiwilliger holte Smit die versunkenen Gärten von Heligan ins Leben zurück.

Das größte Gartenrestaurierungsprojekt Europas soll es gewesen sein, wobei man sich anderswo wohl insgesamt weniger mit der Wiederherstellung verwilderter Grünflächen beschäftigt. Die sprichwörtliche englische Obsession durch Botanik ist mehr als ein Gerücht. Die Begeisterung ist klassenübergreifend, womöglich genetisch verankert und bricht gewöhnlich spätestens bei Erreichen der Lebensmitte aus. In den Verkaufsarealen der großen Gärten sieht man die Betroffenen, mit Notizblocks und Gummistiefeln ausgerüstet, über Stauden und Zwiebeln geneigt. Fast scheinen sie in den Beeten zu verschwinden, im Geist die heimischen Blumenrabatten und Kräutergärten neu strukturierend.

Offensichtlich gilt die Maxime Vita Sackville-Wests, der Schriftstellerin und Schöpferin des berühmten Gartens Sissinghurst in Kent, noch immer: „Lasst uns pflanzen und fröhlich sein, denn im nächsten Herbst sind wir vielleicht alle ruiniert.“ So kommt es auch, dass Alison, Besitzerin eines Bed and Breakfast, das einem Zusammenschluss von Unterkünften „for Garden Lovers“ angehört, ihre Gäste schon vor der Zubereitung der Frühstückseier in den Garten führt, um auf knospende Stauden aufmerksam zu machen und auf die früh und rosa blühende Camellia williamsii „St Ewe“, eine nach dem nahen Dorf benannte Kamelie. Nebenbei gibt sie Tipps, auf welche Details in Heligan besonders zu achten sei. Schmetterlinge tanzen, Hunde tollen über den Rasen. Sogar der Esel auf dem Nachbargrundstück scheint ein wenig neidisch auf diese Idylle zu schauen.

Kaum waren die verlorenen Gärten aus ihren Träumen gerüttelt, machte Smit sich ans nächste Vorhaben: das „Eden Project“, das in einer 50 Meter tiefen, stillgelegten Kaolingrube bei St. Austell unter einer Reihe riesiger Kuppeln die Pflanzen mehrerer Klimazonen vereint – eine Art lebendiges Botanikbuch. Im April 2001 wurde dieses wohl größte Treibhaus der Welt eröffnet, das alle Aspekte der Abhängigkeit des Menschen von der Flora darstellen und erklären will.

Tim Smit hat nicht nur die überwucherten Gärten von Heligan wach geküsst, sondern mit den beiden gigantischen Projekten der gesamten Region einen neuen Impuls gegeben. So ist wohl auch die ans Religiöse grenzende Euphorie zu erklären, die die ausgegrabene Gartenanlage und das futuristische Millenniumsprojekt Eden auslösen.

In einigen Gegenden Cornwalls, das zu den ärmsten Regionen der EU zählt, reicht die Arbeitslosenquote an die 25 Prozent. Mit dem Abbau von Zinn und Kupfer, früher Haupteinkommensquelle der westlichsten Grafschaft Englands, wird schon lange kein Geld mehr verdient, wie die halb verfallenen Maschinenhäuser beweisen, denen Küstenwanderer häufiger noch begegnen als den verwitterten keltischen Steinkreuzen. Auch die Fischerei bringt wenig ein, und der Landwirtschaft mangelt es an fruchtbaren Böden. So liegt Cornwall, die romantische Landschaft aus Steilklippen, Fischerdörfern, verschwiegenen Buchten und subtropischen Parks wie Trebah, Trelissick und Glendurgan, in anmutiger Armut. Bleibt der Tourismus, dessen wichtigstes Kapital die vom Golfstrom begünstigten Gärten sind, der sich aber trotz ganzjährig milden Klimas nach wie vor auf die Sommermonate konzentriert.

„Die Begeisterung ist klassenübergreifend, womöglich genetisch verankert“

Doch mit den Lost Gardens of Heligan und dem Eden Project hat der Südwesten nicht nur neue Arbeitsplätze bekommen, sondern auch zwei ganzjährig zugängliche Attraktionen, die mit ihren Landschaftsbildern aus Vergangenheit und Zukunft hunderttausende anziehen – im Garten Eden wurde 2001 gar die Millionenmarke überschritten. 400 Angestellte sind dort beschäftigt, von denen die Hälfte zuvor arbeitslos war. Auch sonst sind die Dimensionen beeindruckend. Über 100.000 Pflanzen repräsentieren 5.000 Arten, innerhalb weniger Stunden können Besucher im Regenwald schwitzen, unter mediterranen Olivenbäumen flanieren und via Kalifornien und Südafrika einen raschen Streifzug durch die Welt bis zurück nach Cornwall unternehmen. Schon der Ausblick auf die Parkplätze verursacht leichtes Schwindelgefühl. Garten und Kuppeln im Krater nehmen eine Fläche von nicht weniger als dreißig Fußballfeldern ein.

Heligan ist heute der meistbesuchte Garten der Britischen Inseln. Zudem ist er ein Symbol dafür, dass das Sterben der Cornischen Gärten – seit 50 Jahren verschwindet alle zwei Jahre einer der großen unter Efeu oder Bauplänen – aufzuhalten ist.

Die Familie Tremayne hat, anders als die Bewohner anderer historischer Häuser, weder durch exzentrische Lebensführung noch durch höfische Skandale oder sonstiges Eingreifen in die Geschicke Englands von sich reden gemacht. Was von ihr blieb, ist nicht viel mehr als Fenster und Grabstätte in der örtlichen Kirche. Der Rest sind Gärten. Jedes Beet, jeder Baum, jedes Gewächshaus erzählt Geschichten aus einer Zeit, als die Menschen auf der Suche nach exotischen Gewürzen um die Welt reisten und Gewächse mitbrachten, wie sie daheim noch niemand gesehen hatte. Im Italienischen Garten gedeiht so eine der ersten Kiwipflanzen, die den Weg nach England fand.

Pavillons öffnen durch in die Hecken geschnittene Fenster den Blick auf die grünen Hügel der Küste. Leicht kann man sich hier in eine Zeit zurückdenken, als gartenverrückten Engländerinnen in einschlägigen Leitfäden erklärt wurde, wie man beim Entfernen welker Blüten schicklich zu Werke geht. Alte Werkzeuge wie der „Witwenmacher“, der zum Giftsprühen verwendet wurde, räumen mit verklärenden Vorstellungen vom gesunden viktorianischen Garten auf.

Die Gärten von Heligan sind kein abgeschlossenes Werk und wollen es auch nicht sein. Viele ihrer Geschichten sind noch immer ohne Schluss – weshalb die Leute aus der Umgebung aufgefordert sind, in ihren eigenen Familien nach Anekdoten zu forschen, die Auskunft über den Alltag in Haus und Gärten im 19. und frühen 20. Jahrhundert geben. Die Erkenntnisse sind vielfältig. Aus diesen Quellen rührt unter anderem die Behauptung, die Hälfte der Einwohner Megavisseys sei in den überwucherten Gärten von Heligan gezeugt worden.

The Lost Gardens of Heligan, Pentewan, St. Austell, Cornwall PL26 6EN, www.heligan.com. Tgl. 10 bis 18 Uhr. Eintritt 6 Pfund, ermäßigt 3 Pfund Eden Project, Bodelva, St. Austell, Cornwall PL24 2SG, www.edenproject.com. Tgl. 10 bis 18 Uhr, letzter Einlass 16 Uhr, im Winter 15 Uhr. Eintritt 9,50 Pfund, ermäßigt 4 Pfund Das Verzeichnis „Bed and Breakfast for Garden Lovers“ und Informationen über weitere Gärten in Cornwall gibt es beim Urlaubsservice Großbritannien der British Tourist Authority, Westendstraße 16–22, 60325 Frankfurt, Telefon (0 18 01) 46 86 42, www.visitbritain.com/de