Ein Weg, die Isolation zu brechen

Teams aus aller Welt nehmen an der Fußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen teil, die nicht nur auf reges Publikumsinteresse stößt, sondern vielen Teilnehmern auch zu neuen Perspektiven der Lebensgestaltung verhilft

AUS GÖTEBORG REINHARD WOLFF

Der Anstoß zum Länderspiel Schweden gegen Argentinien verzögert sich. Vor dem vorhergehenden Match war nämlich dem kanadischen Torhüter von seinen Teamkameraden erst noch mit Torte und Kerzen zum Geburtstag gratuliert worden. Womit sie vielleicht bis nach dem Schlusspfiff hätten warten sollen. Denn so „gestärkt“ musste er gleich zwölfmal hinter sich greifen. Nach Bällen, die ihm die schottische Mannschaft ins Netz gesetzt hatte. Aber das waren immerhin weniger als die 27 Tore, die die Mannen aus Japan vorher binnen zwei Stunden in zwei Spielen kassieren mussten. Deren Altherrenmannschaft aus Osaka und Tokio mit ihrem Star, dem 62-jährigen Nobuyuki Toritani, an der Spitze war angesichts ihrer offenbarem Hilflosigkeit mit dem runden Leder gleich zum unangefochtenen Publikumsliebling auf dem Götaplatz in Göteborg aufgestiegen. Ein Publikum, welches jedes japanische Tor frenetisch feierte und heute mal wieder so zahlreich ist, dass die über tausend Plätze auf den Tribünen nicht ausreichen.

Doch jetzt wird es ernst für Schweden. Nicht allerdings für Henrik Larsson und Zlatan Ibrahimovic. Sondern für Michael aus dem Entziehungsheim, Joachim, der im letzten Jahr zwanzig verschiedene Adressen hatte, und David, den seine Spielsucht in die Obdachlosigkeit getrieben hat. Es ist die Fußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen. Letztes Jahr erstmals im österreichischen Graz veranstaltet, haben sich in dieser letzten Juliwoche im westschwedischen Göteborg 26 Mannschaften von Brasilien bis Japan und Schottland bis Russland getroffen. Die „New Yorkers“, „Styria Nairobi United“, „Factor S“ und „Crianza esperanza“. Eigentlich sollten es 27 sein, doch Frederick Mbah und seine Mitkicker aus Kamerun hatten aus unerfindlichen Gründen von den schwedischen Behörden keine Einreisevisa bekommen. Von den Regeln her offen für Frauen und Männer, sind es faktisch zumeist reine Herrenmannschaften. Doch bei Dänemarks „Danish Dynamite Team“ trägt Claudia das Trikot mit der Nummer 11. Dort und in England gibt es mittlerweile sogar eigene Ligen für Obdachlosenmannschaften.

„Fußball schenkt Selbstvertrauen“, sagt Annika Kharraziha, eine Mitveranstalterin der Weltmeisterschaft: „Fragt man Obdachlose, was das größte Problem für sie ist, antworten die meisten: die soziale Isolation. Fußball ist ein Weg, diese Isolation zu brechen. Zu zeigen, dass man nicht nur obdachlos ist, sondern auch Fußballspielen kann.“ Vielleicht würde der eine oder andere Zuschauer jetzt nicht mehr meinen, lieber einen großen Bogen um den Penner auf der Parkbank machen zu müssen. Und vielleicht würden auch einige Politiker wach werden und sich mal wieder mehr um das Thema Obdachlosigkeit kümmern.

„Obdachlosigkeit ist ein globales Problem. Wie ja diese Weltmeisterschaft gut zeigt“, konstatiert Rosie Kane. Sie ist seit einem Jahr Abgeordnete im schottischen Parlament und hat „ihre“ – „die schottische Nationalmannschaft kann man ja vergessen“ – Mannschaft nach Göteborg begleitet. Rosie hat vier fußballverrückte Brüder, „Celtic-Fans, deshalb hasse ich Fußball eigentlich. Aber Obdachlosigkeit hasse ich noch mehr.“ Sie hofft, nicht nur die Politik für Obdachlose zu interessieren, sondern umgekehrt auch diesen selbst zu zeigen, dass Politik keine abgesonderte Sphäre ist. Dass es möglich ist, sich zu engagieren, selbst etwas zu erreichen. Um den acht „fantastischen Spielern“ aus Glasgow die Fahrt zu ermöglichen, hat sie selbst Geld gesammelt. Einmal bei einem nächtlichen Fest auf einem Platz in Glasgow nur mit Pyjama bekleidet.

Gespielt wird auf einem 20 mal 14 Meter großen Spielfeld mit vier Meter breitem Flachtor und jeweils drei Feldspielern und einem Torwart. Bei einer Matchdauer von zweimal sieben Minuten wird fliegend gewechselt – die meisten Spieler haben kein allzu regelmäßiges Training hinter sich. Besonders wichtig ist es, während der gesamten Turnierzeit clean zu bleiben, die Finger von der Flasche zu lassen. Bei den meisten Mannschaften heißt das nämlich, dass man ansonsten die Fußballschuhe für diesmal an den Nagel hängen kann.

Die Spiele selbst sind nur ein Teil des gesamten Weltmeisterschaftsprogramms, welches von Vorträgen und Seminaren zur Obdachlosigkeit begleitet ist. Drogen- und Alkoholmissbrauch, Gewalt, Krankheiten, Kriminalität. Aber auch Zukunftshoffnungen sind ein Thema, nicht zuletzt, was diese Weltmeisterschaft angeht. Von den 141 Spielerinnen und Spielern, welche 2003 in Graz dabei waren, sollen 22 Prozent mittlerweile eine feste Arbeit haben. Für 35 Prozent hat sich nach eigener Aussage die Lebenssituation entscheidend verändert: Von Rehabilitationsmaßnahmen bis zur Wiederaufnahme eines Schulbesuchs oder einer Ausbildung. Und neun Prozent bekamen nach der letzten WM sogar einen Vertrag mit Fußballvereinen als Spieler oder Trainer.

In Deutschland hat die Straßenzeitung Donaustrudl aus Regensburg die gleichnamige nationale Auswahl für Göteborg organisiert. Und die deutschen Kicker machten es den Völler-Buben nach und schieden als Dritte in ihrer Vorrundengruppe aus. Doch einen Unterschied gab es zur EM in Portugal. Die Bälle, die in Göteborg getreten wurden, sind von Arbeitern in der Dritten Welt hergestellt worden, die dafür anständige Löhne bekommen haben sollen und krankenversichert sind.

Als heißer Favorit für das Finale am Sonntagabend gilt Österreich, das schon die letzte WM gewonnen hatte. Wer es in die europäischen Auswahlteams der beiden nächsten Weltmeisterschaften schafft, kann sich auf richtig lange Reisen vorbereiten: 2005 wird die WM in New York stattfinden und 2006 in Kapstadt.