lob des verachtjährigens von WIGLAF DROSTE
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Sommers am See ist gut regredieren. Man verachtjährigt leicht zwischen all den netten Tierchen. Herr Haubentauch gleitet vorbei mit Frau und Kindern, und nur ein Wunsch erfüllt das Herz: da mitschwimmen können – wenn nicht als Haubentaucher, so als Haubentaucherfreund.

Über märchengrünes Mecklenburger Seewasser zischt das Paddelboot. Nach ein paar Kilometern finden wir einen Steg, der zwar privat, aber verwaist und lange ungenutzt scheint. Auch die sonst üblichen „Verboten! Alles Verboten!“-Schilder fehlen hier. An einem Baum peckt schwarzaufgelb ein kleines Schild, „Bissiger Hund“ steht da in DDR-Typo, aber die Süße winkt ab: „Das ist noch aus dem Osten, der Hund ist längst tot.“

Für ein paar Stunden ist der Steg im Schilf unser. Ich tauche eine rote Tonmurmel aus dem Wasser und lege sie der Süßen zu Füßen, humm humm humm. Kleine gestreifte Füschchen umschwirren mich, still bleibe ich im Wasser, neugierige Fische schwimmen an meine Schulter und knuppern an mir, hach … Metallicblaue Stäbchenlibellen sausen umher, das sind die Männchen; die Weibchen sind rarer und müssen weniger mit äußerem Glanz angeben. Dann paart man sich bei Libellens, das sieht sehr akrobatisch aus.

Beim Prozess des Verachtjährigens erlischt der Geist nicht, er wechselt nur in eine andere Form über. Das Distanzierte fällt fort, die Wahrnehmung wird nicht durch die Mühle der kognitiv-kritischen und analytischen Apparatur gedreht, sie ist unmittelbar sensorisch und ursprünglich.

Das klingt paradiesisch, als sei die Zerschlagung der Einheit von Mensch und Natur aufgehoben. Auf dem See springen Fische; ob auf der Jagd nach Insekten zum Zwecke der Nahrungsbeschaffung oder aus anderen Gründen, ist ungewiss. Handelt es sich beim Jumpen der Fische um den bloßen Ausdruck unbändiger Daseinsfreude? Weiß der Fisch, dass er springt? Bereitet es ihm Vergnügen? Vieles, das der Mensch dringend wissen sollte, ist unerforscht – stattdessen weiß er, wer Angela Merkel ist. Doch zu angenehm ist das Gleiten im kühlen Wasser, um Kultur- und Zivilisationspessimismus zu befördern.

Das Springen der Fische lockte uns Schwimmende an – wie auch zahlreiche Möwen, die mit scharfem Schnabel angesaust kommen, knapp überm Wasser fliegend und blitzschnell zuhackend und -packend. Eine erfolglos Richtung Fisch geschnellte Möwe schaukelte auf dem See. Lange hat die Süße meiner Regredierung in der Natur Paroli geboten, nun schwimmt sie, wohl um den wassernden Vogel über seinen Fehlversuch hinwegzutrösten, auf die Möwe zu und ruft ihr, als wolle sie die Gutartigkeit ihrer Absichten deutlich machen, ein mitfühlendes „Putt-putt-putt!“ entgegen. Haben wir Menschen nicht alle unsere dunklen Seiten? Sicher. Aber andererseits ist eine Möwe doch kein Huhn.

Ich muss viel Seewasser aufnehmen, erst vor Lachen und dann noch mehr, als ich für das ungehörige Lachen untergestukt werde. Aber man darf sich doch wundern – schließlich ist die Süße einst durch das Stahlbad eines Kulturwissenschaftsstudiums gegangen? Nein …? Die Möwe jedenfalls wundert sich. Sie sieht uns an, als wollte sie uns einen Vogel zeigen.