Der über die Weser fährt

Bremen ohne Sielwallfähre? Harald Becker kann sich das kaum vorstellen. Seit zehn Jahren schippert der Fährmann mit der „Ostertor“ über die Weser

So nahm er den Job als Fährmann an. Becker: „Die erste Zeit dachte ich, was für’n Scheißkram“

Von Ingrid Seitz

taz ■ Nicht jeder Arbeitstag beginnt für den Fährmann damit, eine Wasserleiche aus der Weser zu fischen – zum Glück. Aber in den zehn Jahren, die Harald Becker nun im Fahrerhäuschen der Sielwallfähre „Ostertor“ steht, ist es immerhin schon seine zweite. Doch als hartgesottener Schiffer bleibt er bei solch einem Fund gelassen. „Das Wasser hat eben seine Tücken.“ Und fügt mit dem Humor eines alten Seebären, bei dem man nicht genau weiß, ob das Gesagte wahr oder bloßes Seemannsgarn ist, hinzu: „Männer treiben im Wasser auf dem Bauch und Frauen auf dem Rücken.“ Erklären kann er die Seemannsweisheit zwar nicht, aber er weiß, dass es fürs Auffischen von Wasserleichen „einen Finderlohn“ von 25 Euro gibt.

Für gewöhnlich ist seine Schicht so ruhig wie das Fahrwasser der Weser. Wenn der 57-Jährige morgens um sieben Uhr zum Sielwallanleger kommt, macht er die Fähre startklar. Auf den Schottel-Propellerantrieb sei Verlass, sagt er. Die Maschine springt sofort an. „Trotz ihrer 30 Jahre“, so Becker, „ist die ‚Ostertor‘ gut in Schuss.“ Und er fährt sie gern. Dann ein kurzer Check der wenigen Anzeiger und Schalter. Da steht: Motorschmieröldruck, Motorkühlwassertemperatur und Tyfon. „Das ist die Schiffshupe“, erklärt der Fährmann. Links neben dem Steuerrad gibt es drei Hebel: Einen zum Gas geben, zwei zum Bedienen des Ein- und Aussteigestegs der „Ostertor“. Die Schiffsglocke aus Messing baumelt von der Decke. Im Sommer ist sie jedoch meist „außer Betrieb“. Denn die läutet der Kapitän nur, wenn dichter Nebel über der Weser liegt.

Über 250 Jahre besteht die Fährverbindung zwischen Sielwall und dem Stadtwerder bereits – dort waren einst Kuhweiden und bäuerliche Awesen. Im November 1736 erteilte der Bremer Rat die von den Bürgern erbetene Konzession, an dieser Stelle eine Fährverbindung einzurichten. Bis zum Einsatz der ersten Motorfähre, der „MS Osterdeich“, im Jahre 1911, dümpelten in der sommerlichen Hochsaison bis zu fünf Dielenschiffe, also Fährkähne, in der Weser.

In Jeans und rot-kariertem Hemd reißt Becker jetzt das Steuerrad, das ihm von den Knien bis zu seinem stattlichen Bauch reicht, energisch herum und drückt den Gashebel nach oben. Eine Bewegung, die er völlig verinnerlicht zu haben scheint, denn sein Blick ist nicht auf die Hände gerichtet, sondern strikt geradeaus.

Die „Ostertor“ bewegt sich erst ein Stück rückwärts und dreht sich dann im Kreis, um mit dem Bug voraus volle Fahrt auf die andere Weserseite zu nehmen. Über Bord gegangen sei ihm auf der kurzen Strecke noch niemand, aber manchen Landeiern sei die Karussellfahrt schon etwas unangenehm, schmunzelt der Fährmann. Eigentlich ist Becker Binnenschiffer und stolzer Besitzer eines „Patent für die Mittelweser“. Mit seiner „Burghorn“ fuhr er 30 Jahre lang, bis 1992, schwer beladen mit Eisen nach Basel, Stuttgart und Nürnberg. Erst als sein Vater erkrankte, verkaufte er das Schiff. Doch der feste Boden unter den Füßen war nichts für Becker. So nahm er den Job als Fährmann an. „Die erste Zeit dachte ich, was für‘n Scheißkram“. Und er erinnert sich an den Muskelkater in seinen Beinen während der ersten Arbeitstage. „Der kam vom ständigen Auf- und Absteigen der Treppe zum Fahrerhaus“. Jetzt kann er darüber nur noch lachen. Denn inzwischen „liebt“ Becker seine Arbeit: Den kurzen Schnack mit den Parzellenbesitzer, von denen er die meisten kennt. Dann das geduldige Beantworten der Fragen über Ebbe- und Flutzeiten und Wasserstand. Becker weiß, dass die Weser bei Ebbe um 3,80 Meter fällt und deshalb bei Niedrigwasser nur vier Meter tief ist. Erstaunten Gesichtern setzt der „Seemann“ mit einem leichten Grinsen entgegen „Das ist gar nichts. Irgendwo in Irland soll der Gezeitenunterschied bei mehr als neun Metern liegen.“

Ab 1962 kamen die harten Zeiten. Als die Wilhelm Kaisen-Häuser auf dem Stadtwerder geräumt wurden, die Weser immer mehr verschmutzte und das Badevolk im Sommer längst andere Feuchtgebiete entdeckt hatte, ging es mit der Fähre immer weiter bergab – die Fahrgäste blieben aus. Finanzielle Zuschüsse lehnte der Bremer Senat wegen Unrentabilität ab. Somit lagen im Oktober 1971 die drei letzten Fährschiffe „Wilhelm“, „Käthe“, und „Antje“ endgültig auf dem Trockenen.

Becker wischt sich die dickenSchweißtopfen von der Stirn. Seine lichten Haare glänzen feucht. Die Sonne knallt unerbittlich ins Fahrerhaus. Kein Lüftchen weht. Es ist fast Mittag und sein Hemd zum Auswringen durchgeschwitzt. Bis 14.30 Uhr muss er noch durchhalten, dann kommt seine Ablösung. Inzwischen warten auf jeder Uferseite ständig Passagiere. Mehr als 600.000 sollen es bis November noch werden. So bleibt keine Zeit, auf einer der Weserufer zu verweilen. Becker nimmt einen großen Schluck aus seiner Mineralwasserflasche. „Eine reguläre Pause ist nicht drin, sonst würde der Fährbetrieb ja total lahmliegen“, sagt er. Selbst eine Toilette hat er an Bord. Aber die Zeit, sich hin und wieder ein Zigarillo anzustecken und einige Male genüsslich daran zu ziehen, nimmt er sich doch.

Das Aus des Fährservice erhitzte die Gemüter der Bremer Bürger. Es hagelte Proteste, vor allem von den Kleingärtnern: Im Senat spitzten die Verantwortlichen dann doch die Ohren. Zähe Verhandlungen kamen in Gang. Und endlich, Ende August 1972, war ein zwanzig Paragraphen umfassender Vertrag geschlossen, der fortan das Fährprivileg regeln sollte. So lief fast schon zum Ende der Saison die nagelneue ‚Ostertor‘ vom Stapel. Seither tuckert das 12,5 Meter lange und 4,2 Meter breite Schiffchen, auf dem 42 Fahrgäste Platz finden, als letztes innerstädtisches schwimmendes Brückchen über die Weser.

Wie oft Becker in acht Stunden hin- und herpendelt, weiß er nicht, hat es nie gezählt „Ich fahr einfach nur“, sagt er. Aber er schätzt, dass es weit über 100-mal sein müssen. Genauso wenig wie Becker seine Fahrten, zählt er auch, wie oft er während der acht Stunden fragt, „nur rüber oder hin und zurück?“ Er kassiert ab, die einfachen Billets wandern meist gleich in das kleine rote Plastikeimerchen rechts neben der Kasse. Noch zwei- oder dreimal rübergondeln, dann ist Feierabend. Und auf den freut er sich heute besonders. Gleich wird er die 100 Perdestärken der „Ostertor“ endlich wieder einmal gegen rassige 500 PS des Binnenschiffes ‚Königstein‘ tauschen, das nur wenige Meter weiter vertäut am Anleger weilt. Becker muss dessen Fracht nach Bremerhaven bringen. „Das wird ein tolles Gefühl“, sagt Becker, als er den Steg entlang geht.