Der Spannungsbogen

AUS MOSTAR ERICH RATHFELDER

Die Kassette ist eingelegt, ein routinierter Griff, ein Druck auf den Knopf und die berühmte Szene flimmert über den Bildschirm des Fernsehstudios in Mostar-Ost: Die Schüsse des kroatischen Panzers treffen den hoch geschwungenen Bogen der „Alten Brücke“ von Mostar, sie biegt sich unter der Wucht der Granate, wieder ein Schuss, genau in die Mitte. Das Bild schwankt, die Brücke scheint zu halten, doch dann sackt sie in sich zusammen. Trümmer fallen in den reißenden Fluss.

„Die grüne Neretva hat sich damals rot gefärbt, es sah aus wie Blut“, sagt Eldin Palata nervös an seiner Jacke nestelnd. Auch nach all der Zeit hat sich bei ihm keine Routine eingeschlichen, wenn er über den Vorfall spricht. Er selbst war es, der vor fast elf Jahren diese Bilder aufgenommen hat, als Kameramann des lokalen Fernsehen. Noch zwei andere filmten das Geschehen, doch nur ihm gelang es, diesen letzten Schuss zu dokumentieren – ein Schuss, der die Brücke von Mostar zerstörte, über 400 Jahre nach ihrer Erbauung als Zeichen der Einheit von Orient und Okzident.

Elf Jahre nach ihrer Zerstörung und neun nach Beginn des Wiederaufbaus erstrahlt sie wieder – weißer als zuvor, noch ohne jede Patina. Freitagabend wird sie eingeweiht mit Pomp und internationalen Gästen.

Wenige Tage vor dem Großereignis sitzt Eldin Palata in einem kleinen mit Technik vollgestopften Studio und starrt noch immer auf den Monitor. Der dunkelhaarige, schlaksige Mann mit den lächelnden Augen, war sehr jung damals an diesem grauenvollen Tag, dem 9. November 1993. Er saß als Soldat der bosnischen Armee in einem der Unterstände, knapp 50 Meter von der Brücke entfernt. Er sah, wie ein kroatischer Panzers Schüsse auf die Brücke abfeuerte und bat seinen Kommandeur um Erlaubnis, seine Kamera zu holen.

Dann ging alles sehr schnell. Als der entscheidende letzte Schuss fiel, war er selbst so erschrocken, dass er die Kamera nicht mehr gerade halten konnte. „Später haben die Kroaten behauptet, wir Muslime hätten die Brücke selbst gesprengt. Als Beweis führten sie das Schwanken meiner Kamera an“, erzählt Eldin. Dann lacht er amüsiert.

Im Sommer 1992 war er von Deutschland, wo seine Eltern leben, nach Mostar zurückgekehrt. Er wollte helfen, die Stadt zu verteidigen. Damals gelang es kroatischen und muslimischen Milizen gemeinsam, die serbischen Streitkräfte aus der Stadt zu vertreiben. Doch bald verschlechterte sich das Verhältnis der Verbündeten. Die kroatisch-bosnische Führung wollte Mostar zur Hauptstadt des von ihnen kontrollierten Gebietes in Bosnien und Herzegowina machen und die muslimische Bevölkerung aus der Stadt vertreiben.

Am 9. Mai 1993 begann der Angriff auf die umlagerte muslimisch dominierte Altstadt. Kroatische Artillerie zerstörte jetzt auch die Häuser, die bei den Kämpfen mit den Serben unversehrt geblieben waren. Scharfschützen machten jede Straßenüberquerung zum Abenteuer. Die 40.000 Menschen in Ostmostar lebten nur noch in den Kellern. Und Eldin wurde Soldat.

Er spult den Film noch einmal zurück. Da ist noch etwas, es ist ihm wichtig. „Hör jetzt genau zu“, sagt er. Wieder der dumpfe Aufprall der Panzergranate, das Ächzen im Bogen, und auf dem Bildschirm stürzt die Brücke noch einmal mit einen lauten Grollen in die Neretva. Und dann hebt ein Konzert aus Maschinengewehrsalven und Pistolenschüssen an. Vor Freude über die Zerstörung des alten Wahrzeichens feuerten kroatisch-bosnische Soldaten in die Luft. „Welcher Hass da zum Vorschein kommt“, sagt Eldin. Er klingt so bestürzt, als hätte er die Schüsse eben zum ersten Mal vernommen.

Im Ostteil der Stadt konnten die Menschen ihre Tränen nicht zurückhalten. Die vom osmanischen Baumeister Mimar Hajrudin 1566 errichtete Alte Brücke gab der Stadt schließlich den Namen – Brücke heißt most, die Bewohner mostari, was gleichzeitig „die Brückenwächter“ bedeutet. Und Eldin fühlte sich als solcher. Die Brücke als Symbol des friedlichen Zusammenlebens zwischen Christen und Muslimen war zerstört, die Brücken zwischen den katholischen Kroaten und Muslimen wurden damals, an diesem Novembertag, abgebrochen. Endgültig? Eldin zuckt mit den Achseln. Mostar sei Vorreiter für den Frieden in Bosnien und Herzegowina gewesen, der Waffenstillstand sei hier eineinhalb Jahre früher als im übrigen Bosnien gekommen. „Die USA und Deutschland haben damals vermittelt. Wir verdanken Hans Koschnick und der Verwaltung der EU sehr viel. Sie tauchten nach dem Friedensabkommen im März 1994 hier auf und nahmen den Wiederaufbau in die Hand.“

Eldin erinnert sich gern an Koschnick, den Mann mit der Hornbrille, der zwei Anschläge überlebte. Er wollte die nationalistischen Extremisten, die damals im kroatischen Westteil der Stadt regierten, in die Schranken weisen. Seit dieser Zeit habe sich die Lage in der Stadt Schritt für Schritt verbessert. Der Hohe Repräsentant, Paddy Ashdown, verfügte im Februar dieses Jahres die Wiedervereinigung. Und nach den Kommunalwahlen im Oktober solle es nur noch eine Verwaltung geben.

„Heute kann jeder hingehen, wohin er will. Aber na ja, ich gehe trotzdem selten in den Westteil, eigentlich nur, wenn ich muss“, erzählt Eldin. Ein Großteil der alten Bewohner – Serben, Kroaten und Muslime –, die früher ohne Probleme zusammenlebten, sind während des Krieges geflohen, etwa 30.000 Menschen. Viele Flüchtlinge aus den ländlichen Gebieten, die das alte Mostar gar nicht kannten, prägen nun die Atmosphäre in der Stadt.

Doch die, die geblieben sind, haben nichts vergessen. Eldin sagt: „Es gibt viele offene Wunden.“ Immerhin verloren über 3.000 Menschen allein im Ostteil ihr Leben. Dann erzählt er die Geschichte jenes Nachbarn, der an einem Tag im Krieg zwei Söhne verloren hat. „Er hat seinen Töchtern verboten, einen Christen zu heiraten.“

In der Stadt, in der der Bevölkerungsanteil von Muslimen und Katholiken heute ungefähr gleich ist, gebe es noch immer „eine unsichtbare Wand“, die die Menschen trenne. Sogar einige Serben sind zurückgekehrt. Und auch Eldin will bleiben. „Ich habe geheiratet, habe eine kleine Tochter, ich fühle mich sicher in der Stadt.“ Bosnien und Herzegowina haben jetzt nämlich eine der niedrigsten Kriminalitätsraten Europas. Legendäre Kriminelle wie der Bandenführer Tuta säßen längst im Gefängnis in Den Haag, und General Slobodan Praljak, der den Befehl für die Zerstörung der Alten Brücke gegeben haben soll, leistet ihm seit einigen Monaten Gesellschaft. „Er wird sich für seine Tat verantworten müssen“, sagt Eldin.

Schon heute erstrahlt die Stadt in vielen Teilen im alten Glanz, das einmalige Panorama auf die Altstadt, die sich am Flusslauf der Neretva entlangzieht, die Moscheen und Häuser aus der türkischen Zeit sind wieder hergestellt. Touristen drängen sich in den engen Gassen und bevölkern die Cafés und Restaurants, die alle Winkel und Ecken in Besitz genommen haben. Der im Krieg beschädigten Karadoz-Moschee merkt man von die jüngste Vergangenheit nicht mehr an, auch das zum Teil dem Erdboden gleich gemachte Viertel der Handwerker, Kujundziluk, ist aus den Trümmern auferstanden.

Endlich stehen wir vor der wieder aufgebauten Alten Brücke. Unter den weißen, im Wind flatternden Tüchern, die erst am Freitag entfernt werden, ist der hoch geschwungene Bogen zu erkennen, die Türme an beiden Seiten der Ufer rahmen das Bauwerk ein. Mehrere Jahre lang haben türkische Steinmetze an dem originalgetreuen Wiederaufbau der Brücke gearbeitet. Unter der Schirmherrschaft der Unesco arbeiteten Ingenieure aus vielen Ländern, auch Kroaten waren darunter.

Die neue Alte Brücke ist wie das Original eine technische Meisterleistung. Denn erst musste die Technik Hajrudins erforscht werden. Der osmanische Baumeister, der das damals architektonisch revolutionäre Werk in neun Jahren Bauzeit vollendete, kam ohne Mörtel und Träger aus. Die aus einem nahen Steinbruch gewonnenen Steinquader mussten exakt und das heißt auf den Millimeter genau passen. Selbst das Material der Stifte, die die Steine verbinden und stabilisieren sollen, musste erforscht und getestet werden. Wissenschaftler aus Sachsen haben schließlich die Lösung gefunden. Als dann alles passte und im April der letzte Stein eingefügt worden war, konnten sich die heutigen Baumeister zu Recht beglückwünschen.

Hunderte von Menschen drängen sich an der Balustrade, um noch vor den Feierlichkeiten einen Blick auf die Brücke zu erhaschen. Eldin ist ernst geworden. „Die alte Brücke strömte Wärme aus. Der Stein der neuen ist weiß und kalt.“ Wird auch sie ein Symbol werden? Für das heutige Zusammenleben zwischen den Gruppen in der Stadt? Eldin ist schweigsam geworden. Er denkt an den Freitag. Dann werden nur geladene Gäste aus aller Welt das Schauspiel der Eröffnung erleben können. Die „normale“ Bevölkerung wird vor den Fernsehapparaten sitzen. Und Bilder sehen, die ihnen Eldin Palata, der Kameramann des bosnischen Fernsehens, liefern wird.