Musik als Baustelle

Die Vögel tanzten am Himmel beim Konzert der amerikanischen Postrock-Bands Tortoise und Lambchop auf der Berliner Museumsinsel. Sound-Labyrinthe luden zum schwärmerischen Überflug

Es hatte seine ganz eigene Ironie, dass es mit der Museumsinsel ausgerechnet halb renovierte Ruinen einer ganz eigenen Art waren, die die Kulisse für das Berliner Konzert der amerikanischen Postrock-Bands Tortoise und Lambchop am Mittwochabend abgaben. Wurden beide Gruppen doch einst als Tänzer auf den Ruinen des Indierock gehandelt. Vor 10 Jahren, als sich die klassischen Songmodelle und Rock-Attitüde totgelaufen hatten und eine Innovationswelle vom HipHop und aus der elektronischen Musik im Begriff war, die E-Gitarre in die hintersten Winkel der Poprelevanz zu spülen. Kurt Cobain hatte mit sich ein ganzes Genre ins Jenseits befördert und Postrock sollte ein neues Zeitalter einläuten – mit den fünf Ex-Hardcorern von Tortoise als stummen Propheten.

Die Symbiose aus instrumentellem Rock, Elektronik und Jazz, die sie populär machten, hat sich bei Tortoise seitdem nur um Nuancen verändert. Ihre diesjährige Platte „It’s all around you“ ist schön bis erhaben – und unspektakulär. Doch live entfaltet ihre Musik eine andere Wirkung, die sich dem visuellen Erleben der Brillanz und Präzision verdankt, mit der die fünf Mucker zu Werke gehen. Bei Tortoise-Stücken fädeln sich nicht selten mehrere Melodielinien von verschiedenen Instrumenten ineinander. Das so geschaffene Klangkonglomerat, das von vielen beiläufigen Hörern als Gedudel wahrgenommen wird, lässt sich beim direkten Beobachten des Schaffensprozesses wieder entflechten. Eine Melodie wird von John McEntire am E-Marimba begonnen, dazu gesellt sich als Überlagerung ein Netz, das Dan Bitney am Vibraphon spinnt und das wiederum den Ausgangspunkt einer weiteren Schicht aus Synthie und Gitarre bietet. So entstehen spiralenförmige Zirkel, die nur von der hohen rhythmischen Präzision der Band zusammengehalten werden.

Auf der Museumsinsel agieren Tortoise fragmentarischer als beim Melt-Festival am vergangenen Wochenende, wo sie ein recht geschlossenes Hit-Set (insofern man bei ihnen von so etwas sprechen kann) präsentierten. Nun nehmen sie sich mehr Raum zur Improvisation, spielen Stücke zur Hälfte und koppeln sie an Fragmente von anderen Platten. Ihre unberechenbaren Labyrinthe erlauben den Zuhörern sowohl den schwelgerischen Überflug (tatsächlich tanzen am Himmel die Vögel) wie den Eskapismus nach innen.

Lambchop, die wie Tortoise heuer ihr Zehnjähriges feiern, spielen eine Art Post-Country mit Soul und Kammermusik als wichtigsten Ingredienzen. Auch sie galten kurz als neues Ding, bis (wie auch im Fall Tortoise) klar wurde, dass sie als Identifikationsmodell in etwa so gut taugen wie ein kaputter Kühlschrank – und ähnlich uncool sind. Neun Musiker (plus vier Streicher), die allesamt nicht lauter, sondern eher leiser spielen zu wollen scheinen als ihre Kollegen, und ein Sänger, der manchen an einen älteren Pendler erinnert, der im Bus mit sich selbst spricht.

Ach, Kurt Wagner. In Bezug auf die diesjährige Doppel-LP „Aw C’mon/No You C’mon“ gab das Lambchop-Mastermind zu Protokoll, über Monate hinweg jeden Tag einen neuen Song geschrieben zu haben. So entstand nach dem Motto „Wer hat, kann hängen lassen“ das 24-teilige Opus mittels Selektion aus dem selbst angelegten Archiv. Die Distinktion zwischen den beiden Hälften des Doppelalbums, die Wagner als eigenständige Platten verstanden wissen will, sollte man übrigens nicht zu hoch hängen. Tatsächlich unterscheiden sie sich weniger voneinander als etwa die Vorgänger „Nixon“ und „Is A Woman“, die den Genpool für den neuen Zwilling bilden.

Im Konzert, das mit dem zweiten Streichquartett Pendereckis eröffnet wurde, präsentierten Lambchop vor allem die lethargische bis pathetische Seite ihres Schaffens. Alles sehr ruhig, sehr gediegen und so dem bestuhlten und schon etwas älteren Publikum bestens entsprechend. Die wirklich anrührenden und in ihrer Vielstimmigkeit gelungen arrangierten Momente bildeten allerdings eher die Ausnahme in einem überwiegend langweiligen Set. Man wünschte Wagner einen Aphetamin-Prozac-Cocktail als Aperitif zum Mineralwasser oder wenigstens den Mut zur Rückkehr zur Falsetto-Stimme.

Alles in allem also eher ein Abgesang, vor allem auf die evolutionistische Theorie des Rock-Tods. Heute liebt man wieder die wilde Geste und den Popbeobachtern dunkelt einmal mehr, dass Modelle vom Aussterben gewisser Arten musikalisch einfach keine Gültigkeit besitzen. Eher hat das Ganze den Charakter einer Baustelle, auf der sich hier und da Schätze finden lassen. GUIDO KIRSTEN