Scharons Aufruf zum Kofferpacken

Der Vorwurf, in Frankreich breite sich „wildester Antisemitismus“ aus, stößt dort auf Kritik. Ariel Scharon habe „eine Gelegenheit verpasst, zu schweigen“

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Verlasst Frankreich und kommt so schnell wie möglich nach Israel“, hat Ariel Scharon die französischen Juden aufgefordert. Seine Begründung: In Frankreich breite sich „wildester Antisemitismus“ aus. Als gäbe es dabei einen logischen Zusammenhang, fügte der israelische Premier hinzu, dass „zehn Prozent“ der französischen Bevölkerung muslimisch seien.

Der Aufruf zum Kofferpacken, den Scharon am Sonntag in Jerusalem – vor einem aus den USA angereisten Publikum – ausgesprochen hat, hat in den französisch-israelischen Beziehungen Sturmstimmung ausgelöst. Und einhellige Verurteilung in Paris. Sowohl auf der politischen als auch auf der religiösen und gesellschaftlichen Ebene. Der Élysée-Palast teilte der israelischen Botschaft mit, ein Besuch Scharons in Paris, wie er bislang vage angepeilt war, sei vorerst nicht erwünscht. Erst müsse sich die israelische Regierung „erklären“.

Zahlreiche französische PolitikerInnen, die sich für die Freundschaft mit Israel engagieren, kritisieren den aggressiven Auftritt. Parlamentspräsident Jean-Louis Debré, enger Vertrauter des französischen Staatspräsidenten, nennt Scharons Worte „inakzeptabel, verantwortungslos und feindselig gegenüber Frankreich“. Er sagt: „Er hat eine Gelegenheit verpasst, zu schweigen.“ In der Opposition betont PS-Politiker Julien Dray: „Frankreich heute hat nichts mit dem Antisemitismus von Deutschland der 30er-Jahre zu tun.“

Ungewöhnlich scharf reagierten auch die SprecherInnen der jüdischen Organisationen in Frankreich, auch wenn viele von ihnen politisch dem israelischen Likud nahe stehen. „Scharon hat eine Dummheit gesagt“, meint Théo Klein, Ehrenpräsident von CRIF, dem Dachverband der jüdischen Organisationen. „Die Frage der Abreise der Juden aus Frankreich stellt sich nicht“, verlautet trocken aus dem Büro des französischen Großrabbiners Sitruk. Scharon sei „sehr schlecht darüber informiert, was in Frankreich passiert“, sagt Patrick Klugmann, Exvorsitzender des Verbandes jüdischer Studenten in Frankreich und gegenwärtig Vizepräsident der Organisation SOS-Racisme.

In Israel versucht man derweil, die Wogen ein wenig zu glätten. Der Regierungschef habe „großen Respekt für das Engagement von Jacques Chirac gegen den Antisemitismus“, versichert Regierungssprecher Avi Pasner. Und fügt hinzu, sein Chef habe „nicht nur die französischen Juden, sondern alle Juden in der Welt auffordern wollen, nach Israel zu kommen“.

Doch das reicht nicht, die aufgeregten französischen Gemüter zu beruhigen. Niemand in Paris bestreitet, dass antijüdische Übergriffe – und andere rassistische Gewalttaten – in Frankreich in den letzten Monaten zugenommen haben. Dass sie ein Riesenproblem sind. Und dass etwas dagegen unternommen werden muss. Der französische Innenminister hat verfügt, dass in jedem Département eine „Krisenzelle“ gegründet werden muss. Und Staatspräsident Chirac hat zuletzt am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, wiederholt, dass gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus hart vorgegangen werde.

Die Zahl der antijüdischen Gewaltakte hat seit dem Beginn der zweiten Intifada mehrfach zugenommen. Nachdem sie im vergangenen Jahr zurückgegangen waren, sind sie 2004 erneut gestiegen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurde 94 Gewaltakte gegen Juden und jüdische Einrichtungen registriert – gegenüber 47 im Vorjahr. Unter anderem wurden jüdische Personen auf der Straße beleidigt und angerempelt, jüdische Friedhöfe mit Hakenkreuzen beschmiert.

Nachdem die jüdischen Organisationen sich anfänglich von den Behörden im Stich gelassen fühlten, ist die Bereitschaft der PolitikerInnen, auf antisemitische Angriffe zu reagieren, heute groß. Gelegentlich führt das sogar ins andere Extrem. Etwa als die Medien im Frühjahr ohne jede Recherche von einem „antisemitischen Messerstecher“ berichteten, nachdem ein junger Franzosen aus einer jüdischen Familie angegriffen worden war – bis sie feststellten, dass der Täter auch muslimische und andere Personen angegriffen hatte. Oder als Anfang dieses Monats ein großer Teil der Regierung und auch der Staatspräsident persönlich einen „antisemitischen Angriff“ auf eine junge Frau in einer Pariser Vorortbahn verurteilen. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass die Frau die Szene komplett erfunden und sich die Hakenkreuze selbst auf den Bauch gemalt hatte.

In Frankreich lebt mit rund 600.000 Personen die größte jüdische Bevölkerung Europas. Seit der Revolution von 1789 sind sie eine besonders gut in die Französische Republik integrierte Minderheit und eng mit deren Idealen verbunden. Die Alija – die von der Jewish Agency organisierte und mit finanziellen Anreizen unterstützte Einwanderung nach Israel – ist bei den französischen Juden nicht besonders erfolgreich. In den vergangenen Jahren sind nur jeweils knapp 2.000 Personen aus Frankreich nach Israel ausgewandert. Und wer diesen Schritt tut, macht das in aller Regel nicht der eigenen Sicherheit zuliebe, sondern aus ideologischer Überzeugung. „Zionistische Prinzipien bestimmen diese Entscheidung“, erklärte auch ein früherer israelischer Botschafter in Paris. Die Eröffnung mehrerer Büros in Frankreich, mit denen die Jewish Agency in den nächsten drei Jahren bis zu 30.000 AuswandererInnen nach Israel anwerben will, stößt auch bei CRIF in Paris auf Kritik.

Französisch-israelische Verstimmungen hingegen sind nicht neu. Schon vor Monaten nannte ein hoher Verantwortlicher im israelischen Außenministerium Frankreich das „schlimmste antisemitische Land des Westens“. Nach dem Besuch des Pariser Außenministers Michel Barnier bei Palästinenserchef Arafat in Ramallah im Juni wurden bereits mehrfach kritische Worte aus Tel Aviv an die Adresse der Pariser Regierung gerichtet. Dennoch erklärte Außenminister Barnier gestern, dass er an seinem für den Herbst geplanten Israel-Besuch festhalten will.