Vom Pluszeichen des Ostens

Die Ausstellung in der Nationalgalerie widerlegt das Vorurteil, dass DDR-Kunst gleich staatliche Auftragskunst sei. Doch warum zieht sie so viele Besucher an? Eine Analyse

„So sieht das sonst höchstens nachmittags bei uns aus.“ Die Dame vom Koordinationsbüro der Nationalgalerie hat gegen 11 Uhr vormittags die Hintertür in die Ausstellungsräume geöffnet. Vor jedem Bild des ersten Raumes „Stunde Null, 1945“ der Ausstellung „Kunst in der DDR“ stehen mindestens 2 Menschen. Laut Pressebüro sind es 37.000 Besucher nach 19 Tagen.

Dieser Ansturm, der nach Worten des Kurators Roland März „alle Erwartungen übertrifft“, verwundert. Schließlich handelt es sich hier nicht um international anerkannte Künstler, sondern um bis dato kaum bekannte Namen. Zudem sind die Tage dieser Kunst aus der DDR längst passé. Und was das Genre betrifft, so gilt doch: DDR-Kunst ist gleich staatliche Auftragskunst in Form von sozialistischen Wandmalereien und daher kaum der Rede wert.

Warum also der Andrang? Nicht nur März meint, es lägen diesbezüglich „Dinge in der Luft“. Auch Pressesprecher Matthias Henkel konstatiert eine „Sensibilität für Ost-West-Themen“.

Dinge in der Luft – das bedeutet, der Osten rückt in die Gemüter. Geht es um Ostalgie? „Das ist die Kunst, mit der wir groß geworden sind“, erklären in der Eingangshalle zwei Bibliothekarinnen aus dem ehemaligen Ostberlin. Ein dunkelbärtiger Glastechniker gesteht „Nostalgie“, es ginge ihm „um die alten Bilder“.

Auf die Frage nach den Gründen, in diese Ausstellung zu gehen, wird als Erstes stets mit dem ostdeutschen Hintergrund geantwortet. Und bei allen scheint sich das mit dem Wissen um das Spezifische dieser DDR-Kunst zu verbinden. März umschreibt es mit: dem aus der Nähe zum „Volk“ geborenen Realismus, dem darin ausgedrückten Leidensgestus, der anfangs in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen aus dem Dritten Reich geboren wird und später in der Auseinandersetzung „mit denen von oben“ entsteht.

Wichtig wäre, dass endlich einmal die „Vielfältigkeit“ dessen, was aus der Vergangenheit bekannt sei, widergespiegelt werde. So reden die Bibliothekarinnen, der Glastechniker und andere Besucher gleichermaßen. Mit „Vielfältigkeit“ meinen sie nicht nur die Ausstellung staatlich angepasster Kunst. Dabei entspricht das Gesamtbild, das die Ausstellung vermitteln will, dem Bedürfnis, über den Devotionalienkult, wie die Ausstellung von FDJ-Hemden, hinauszugehen. Es ginge um das Spezifische, das mit März’ Worten erst das vergangene Bild vervollständigt. Deshalb sei das Diktum über DDR-Kunst als Auftragskunst eindimensional. „Wenn das Wort DDR fällt, wird sofort ein Minuszeichen vorgesetzt.“ Die von März und Henkel konstatierte Sensibilität für ostdeutsche Themen wird hier dialektisch, mit einem Mangel an „Pluszeichen“ empfunden.

Das ist bemerkenswert, weil im Rahmen des Diktums nicht nennenswerter DDR-Kunst Kritiker der Ausstellung im Feuilleton oft bemängeln, die vertretenen Künstler entstammten ostdeutschen Nischen, inneren oder auch äußeren Exilen. Daher wäre das Prädikat „DDR“ nicht zutreffend. Allerdings scheinen den Interviewten im Foyer Namen wie Altenbourg, ein Einzelgänger in der DDR-Malerei, ebenso geläufig wie der staatlich anerkannte Willy Sitte. Demnach kann auch nichtkonforme Kunst in der DDR nicht völlig isoliert existiert haben.

Aber das Diktum über die Auftragskunst tangiert die ostdeutsche Herkunft. Wenn ein „Minuszeichen“ wahrgenommen wird, so betrifft das auch die ostdeutsche Sozialisation. Aufarbeitung ostdeutscher Vergangenheit ist nicht per se Ostalgie. Den Besuchern geht es vielmehr um die Vervollständigung eines Herkunftsbildes, das gemäß jeder Dialektik neben dem „Minus“ auch ein „Plus“ verlangt. Hieraus speist sich eine Identität, die die Besucher generationenübergreifend als „prägend“ und „wichtig“ beschreiben und die März innerhalb des noch exisitierenden Freundeskreises mit dem Wort „Wärmeaggregat“ betitelt.

Die ostdeutsche Identität bedeutet mehr als tautologische Wahrheiten à la „DDR-Kunst ist gleich Auftragskunst“. Mit solcher Kritik an der Ausstellung wird erst ihr Politikum klar. Das Bedürfnis nach der Korrektur bestimmter Auffassungen steigert die Besuchszahlen ebenso wie das Bedürfnis, sich der ostdeutschen Herkunft zu erinnern.

CHARLOTTE MISSELWITZ