Heiße Küsse ohne Gebiss

Das Liebesleben der Generation Kukident: Der Berliner Schriftsteller Arne Roß schreibt gerne Geschichten über alte Menschen. Für einen Auszug aus seinem kommenden Roman „Pauls Fall“ bekam er von der Jury in Klagenfurt jüngst eine Auszeichnung

Arne Roß schreibt zu festen Arbeitszeiten: Von 9 bis 14 Uhr geht er nicht ans Telefon

VON JÖRG PETRASCH

Alte Menschen kommen in der aktuellen Literatur wenig vor. Vielleicht versprechen sie einfach keine große Spannung: Die Lebenserfahrungen sind gemacht, alles ist eingefahren oder bröckelt irgendwie. Diese Sicht gilt allerdings nicht für alle Autoren.

Für Arne Roß etwa ist der letzte Lebensabschnitt eine sehr interessante Zeit. Dabei ist er selbst noch nicht alt. Auf Fotos trägt der 37-Jährige eine Nickelbrille und kurzes blondes Haar, womit er eher wie ein junger, linker Lehrer aussieht – oder zumindest so, wie man sich einen jungen, linken Lehrer vorstellt.

Ein Blick in seine Biografie bestätigt diesen Eindruck: Deutsch und Geschichte für die gymnasiale Oberstufe. Ein schreibender Deutschlehrer also, der gerne von alten Menschen erzählt. Auf den ersten Blick nicht gerade eine mitreißende Kombination.

Dem Bild eines alternativen Lehrers bleibt Arne Roß auch beim ersten Treffen treu. Zum verabredeten Ort, einem Café am Oranienplatz in Kreuzberg, kommt er trotz des lauen Sommerregens mit dem Rad aus Schöneberg. Der gebürtige Hamburger, der unter anderem wegen des Autors und Literaturwissenschaftlers Walter Höllerer 1986 an die TU kam, hat eine angenehm ruhige Sprechstimme und formuliert präzise: Oft faltet er die Hände vorm Gesicht und denkt kurz nach, bevor er antwortet. Das schafft Distanz. Andererseits gibt Arne Roß zu, dass er unter Freunden manchmal als besserwisserisch gilt. Und das macht ihn wieder sehr sympathisch.

Im Gespräch wirkt Arne Roß alles andere als altklug, und das gilt auch für seine Texte. Sein Romandebüt „Frau Arlette“, das 1999 erschien, fällt durch seine unaufdringliche Sprache auf, in der oft eine leichte Ironie mitschwingt. Das Buch handelt von der Liebesgeschichte einer blinden, 80-jährigen Frau mit einem drei Jahrzehnte jüngeren Mann. Die alte Frau erklärt sich durch ihre eigenen Worte. Über den Ich-Erzähler, den Haushälter Werner, erfährt man dagegen wenig. Er bleibt für den Leser genauso unsichtbar wie für die blinde Frau Arlette. Trotz der so erzeugten Ferne kommen sich die beiden schnell sehr nah: „Und kommen Sie endlich zur Sache, ohne Gebiss ist es schöner, kommen Sie zur Sache, werfen Sie mich in die Kissen.“

Bei diesem lakonischen Stil ist Arne Roß allerdings nicht stehen geblieben. Er sagt, dass sich seine Sprache immer dem Sujet anpasse. Der Romanbeginn von „Pauls Fall“ zum Beispiel, den er vor vier Wochen in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Preis vorgelesen hat, ist konventioneller erzählt. Sehr ruhig, mit genauen Beschreibungen der Personen und des Raums, skizziert er das Bild eines alten Ehepaares. Ihre Gefühle werden deutlich, ohne dass der Autor sie benennen müsste. Handlung findet fast keine statt. Der Jury gefiel dieser Stil so gut, dass Roß für den Romanbeginn den zweiten Preis bekam, den Preis der Jury.

Das wiederum gefiel Arne Roß, dem die Freude über die Auszeichnung vier Wochen danach immer noch anzumerken ist. Während des Gesprächs ist er zwar konzentriert, wirkt aber dennoch entspannt, lacht öfter und gönnt sich am Ende des Gesprächs ein Abendessen, Kassler mit Sauerkraut. Vor allem empfindet Arne Roß die Auszeichnung auch als Anerkennung seiner disziplinierten Arbeitsweise. Er schreibt täglich von 9 bis 14 Uhr und manchmal noch einmal von 15 bis 19 Uhr – eine Zeit, in der er nur über den Anrufbeantworter zu erreichen ist. Abends gehe er, der neben dem Schreiben in einer Jesuitenschule in Mitte, dem Canisius-Kolleg, Vertretungsstunden gibt und Schreibwerkstätten für zehnte und elfte Klassen abhält, gerne mal ins Kino, sagt er. Oder zum Kicken, zweimal in der Woche in der Hasenheide.

Arne Roß ist kein Szenegänger wie viele andere Berliner Autoren in seinem Alter. Weder geht er gern in Clubs noch hört er sich die schreibende Konkurrenz an. Bei einer der zahlreichen Lesebühnen, wo Autoren wie Wladimir Kaminer auftreten, war er überhaupt noch nie. Das sei auch gar keine Inspiration für ihn. Er empfindet sich als Autor, der für sich schreiben muss und vor allem: der an fremden Wahrnehmungsweisen interessiert ist. Und die sucht er eben nicht, wie viele andere jüngere Autoren, im unmittelbaren Umfeld seiner Generation. Sondern ein bis zwei Generationen davor.

Bisher hat der Wahlberliner einen Roman und eine Hand voll Erzählungen veröffentlicht. Das ist für das Schreibpensum, das er bewältigt, eher wenig. Deshalb hat er seine Schublade auch voll. „95 Prozent von dem, was ich schreibe, ist noch nicht veröffentlicht“, sagt er. Lauter Texte, die noch nicht reif seien, wie er meint. Auch die ersten Notizen für „Pauls Fall“, erzählt er, seien bald acht Jahre alt. Mittlerweile bearbeitet er die Rohfassung.

Eine Rohfassung, wie es sie auch schon für seinen dritten und vierten Roman gibt. Alles Teil eines großen Romanprojekts um Paul – eine Figur, die bereits in „Frau Arlette“ am Rande auftaucht. Arbeitsweisen wie die von Arne Roß können zu viel Selbstzweifel führen. Auch deshalb seien die Lesung, die wohlwollende Kritik in Klagenfurt und vor allem der Preis sehr hilfreich gewesen, sagt er.

Einen profanen Vorteil hatte der Preis natürlich außerdem. Von den 10.000 Euro Preisgeld kommt Roß nun eine ganze Weile lang über die Runden. Genau wie damals, Ende der Neunzigerjahre, als er während seines Schulreferendariats zweimal ein Stipendium des Berliner Senats bekam. Anstatt sich an einer Schule zu bewerben, legte er sich das Geld zur Seite und schrieb recht lang und ungestört an seinen Texten weiter. An Texten über alte Menschen und ihre Weltwahrnehmung. So wie die des alten Ehepaars in „Pauls Fall“: „Er schob den Stuhl an den Küchentisch und ging aus der Küche. ‚Ich mache mich aus dem Weg‘, rief er die Kellertreppe hinunter, ‚ich bin zum Abendbrot wieder da, hörst du?‘ Gerda unterbrach das Sortieren, ihr Gesicht erschien unten an der Treppe. ‚Schrei doch nicht so‘, sagte sie, sie keuchte, ihre Brille war immer noch beschlagen.“

„Pauls Fall“ wird als kompletter Roman vielleicht im nächsten Jahr erscheinen.