szenenapplaus
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Auf dem Weg zum nächsten Supermarkt komme ich täglich an einer alten Frau vorbei. Sie hat viele Falten und Warzen im Gesicht und kehrt die Gehwegplatten mit einem Reisigbesen. Dass sie die Sklavin in einem SM-Studio ist, das sich direkt über dem Supermarkt befindet, scheint keinen zu stören: Es ist halt ein Hexenritual, das in Ordnung geht. Der Supermarkt selbst hält eine ähnlich depressive Trance bereit. Ohne jede Musik und fast geräuschlos – bis auf die gelegentlichen Aufschreie aus dem darüber gelegenen Studio – vermittelt dieser Großraum alle Feinheiten des schwierigen Grolls, den man beim Leben in der Grauzone entwickelt. Manchmal hat man das Gefühl, der Belegschaft wäre es recht, wenn man mit anpacken und nicht nur rumstehen und rumschieben würde. Der Filialleiter unterhält sich mit Menschen, von denen unklar ist, ob sie hier arbeiten oder einkaufen. Vielleicht wollen oder dürfen sie auch nicht mehr arbeiten und suchen stattdessen den Senf. „Sie gucken sich die Welt, in der sie leben, ja auch gar nicht an!“, sagt er. Auch an den Kassen werden Kunden Urheber sonderlicher Interaktionen. „Was halten Sie davon?“, fragte neulich ein Mann, hob sein T-Shirt hoch, unter dem er tätowierte, nackte Haut trug, und blickte den Kassierer erwartungsvoll an. Der antwortete: „Nicht viel. Ich steh‘ mehr auf Frauen.“ Die Kassierer und ihre Kolleginnen bleiben während des Abrechnungsvorgangs in ständiger Kommunikation. Vielleicht, damit nichts verloren geht. Oft werfen sie sich Kaffeepackungen zu, die aus Gründen des besonderen Wertes und der Diebstahl-Gefahr unter einer Kasse zu Füßen einer Kassiererin verwahrt werden. 500 Gramm „Dallmeyer pro Domo“ werden hier zum Goldklumpen, den man nur mit Geheimwissen erhält. Und oft kommt ein circa 50Jähriger in den Markt, der eine Schirmmütze trägt, auf der das Bekenntnis steht: „Ich will feiern!“ Er kauft meist zweimal 500 Gramm Hackfleisch in Klarsichtboxen, zwei Tuben Tomatensauce und acht Packungen Zigaretten. Dabei riecht er derart nach Rauch, dass der Kassierer nach dem Zahlungsvorgang mit bloßen Händen die Luft wischt. Eine Schwade bleibt immer. Draussen kehrt die Sklavin weiter. In ihrem Gesicht stehen andere Zeichen als auf der Straße. Carsten Klook