„Deutsche schämen sich für kleine Autos“

Warum täuschen Italiener Urlaubsreisen vor? Warum pumpen Deutsche Geld für teure Sachen? Ein Erklärungsversuch

taz: Herr Schmitt, was ist los mit den Italienern? Warum verbringen sie ihren Sommerurlaub versteckt bei sich zu Hause?

Manfred Schmitt: Die Fähigkeit, sich einen Urlaub zu leisten, vermittelt in Italien offenbar ein so hohes gesellschaftliches Prestige, dass man befürchtet, wenn man sich den Urlaub nicht leisten kann, mit einer sozialen Entwertung rechnen zu müssen.

Haben die Deutschen auch ein Urlaubsproblem?

In Deutschland gehört es sicher auch zu den üblichen Erwartungen, dass man sich einen Urlaub leisten kann – je exotischer und teurer, desto besser für das Prestige. Am Urlaub zu sparen ist auch hier fast ein Tabu. Aber offenbar ist die wirtschaftliche Not in Deutschland noch nicht groß genug, dass man einen Urlaub vortäuschen muss.

Es geht um Scham. Wofür schämen sich die Deutschen?

Vermutlich wäre es für Deutsche beschämender als für Italiener, mit einem kleinen oder verbeulten Auto zu fahren. Beschämend ist für viele Deutsche auch Arbeitslosigkeit. Manche Menschen verbergen ihre Arbeitslosigkeit, um Stigmatisierung zu entgehen. „Fassadenarbeit“ wird auch in Deutschland betrieben, indem man Statussymbole erwirbt und zur Schau stellt, um attraktiv zu erscheinen, obwohl man sie sich nicht leisten kann. Beispiele sind teure Autos oder Hifi- und Videoanlagen auf Pump. Das sind Zeichen für das psychologische Phänomen, im sozialen Vergleich gut dastehen zu wollen. Wer sich das nicht leisten kann, ist häufig bereit, finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen, um den Schein zu wahren.

Was treibt die Menschen zu diesen Täuschungsmanövern?

Es ist eine Mischung aus Hoffnung auf Zuwendung und Angst vor Ablehnung. Wir bekommen in der Werbung ununterbrochen vermittelt, welche Attribute Menschen haben müssen, um wertvoll zu sein. Dazu gehört körperliche Attraktivität ebenso wie materielle Statussymbole. Der Besitz solcher Attribute und Symbole garantiert laut Werbung, dass man von anderen geschätzt wird, Erfolge beim anderen Geschlecht hat usw. Gleichzeitig wird die Message kommuniziert: „Wer das nicht hat, ist ein bedauernswertes Geschöpf.“ Wer zum Beispiel in einer bestimmten Einkommensgruppe mit einem alten, rostigen Auto herumfährt, muss mit Fragen rechnen, warum er sich kein besseres Auto leisten kann.

Wo führt das noch hin?

In Deutschland gibt es besonders bei Jugendlichen ein gefährliches Maß an Überschuldung. Es gibt jede Menge Agenturen, die Geld mit Schuldnerberatung verdienen. Das Streben nach Selbstaufwertung mittels Symbolen und Selbstinszenierung bedroht das Authentische. Personen machen sich zu Zerrbildern ihrer selbst und entfremden sich dadurch von ihrer natürlichen Persönlichkeit.

INTERVIEW: NINA MAGOLEY