Die wahren Weltmeister

In ihrer bittersten Stunde beweisen die Portugiesen Größe und Sportsgeist. Ein Fußballabend aus Klein-Lissabon in Walle

Bremen taz ■ Eine halbe Stunde vor Anstoß hatte ihn sein Bruder noch angerufen. Mit dem Handy, direkt aus dem Stadion in Lissabon. „Er hat mir sogar die Nationalhymne vorgesungen. Die konnte er vorher noch nie!“, erinnert sich Jorge und lächelt liebevoll. Mit feuchten Augen blickt er angespannt auf die Großbildleinwand im „Jomanji“, seiner Bar in der Vegesacker Straße in Walle, Jorge sagt: in Klein-Lissabon.

Das kleine Café des 32-jährigen Portugiesen ist bis auf wenige Plätze voll. Gerade hat der Schiedsrichter fünf Minuten Nachspielzeit angezeigt. Noch hat Portugal eine winzige Chance, den Ausgleichstreffer zu erzielen und sich in die Verlängerung zu retten.

„Das wird nichts mehr“, glaubt Jorge. Sein Freund und Landsmann Noé neben ihm klammert sich noch an den letzten Hoffnungsschimmer. „Unser Land ist durchgeknallt nach Fußball“, erklärt er. Da gibt man nicht einfach auf.

Ein Fußballspiel als Krise von höchster nationaler Bedeutung. Auch Jorges Mutter und seine Schwester hatten sich vor dem Spiel aus Portugal gemeldet. Alle wollten sich noch einmal gegenseitig Mut zusprechen: Ein Sieg bei dieser Europa-Meisterschaft wäre für sie eine Sensation von historischen Ausmaßen. Noch nie hat es ihre „Seleccao“, ihre National-Mannschaft, geschafft, ins Finale eines internationalen Fußball-Turniers zu gelangen. Dieses Ziel auch noch als Gastgeber zu erreichen, wäre der Lohn für Jahrzehnte voller Niederlagen: Der dritte Platz bei der Weltmeisterschaft 1966 war die bisher höchste Platzierung. Und dass, obwohl die Portugiesen „schönen und guten Fußball spielen“, wie Jorge anmerkt.

Der Schlusspfiff nach viereinhalb Minuten Nachspielzeit macht diese Hoffnungen zunichte. „Scheiße“, entfährt es Noé halblaut. Im hinteren Teil des Lokals ist die Stimmung dagegen gelassen. Hinter den ersten Sitzreihen mit portugiesischen Fans hat sich eine internationale Gästeschar versammelt. Eine junge Griechin wirft jubelnd ihre Fäuste in die Luft. Sie war mit ihrem Freund ins „Jomanji“ gegangen, um dem Gegner direkt gegenüberzutreten. Carlos, der mit seinem Bremer Freund Rafael hier ist, ist die Sache relativ egal. In seiner kubanischen Heimat interessiert man sich eher für Baseball. Das mit dem Biertrinken zur Sportübertragung kennt man dort aber auch.

Während Jorges Kellnerinnen pausenlos Nachschub servieren, steht die griechische Nationalmannschaft mit ihrem Trainer Otto Rehhagel im Konfetti-Regen auf dem Siegerpodest. Helmut, die halbe Brille auf der Nasenspitze, ist sichtlich zufrieden. Vielleicht haben seine unentwegten „Otto! Otto!“-Rufe tatsächlich gewirkt. Auch als der portugiesische Star Figo allein an drei griechischen Verteidigern vorbeigedribbelt war, hatte Helmut nicht davon abgelassen, dem knorrigen deutschen Fußballlehrer zu huldigen. Ja, er sei durchaus hier, um zu provozieren, gibt er unumwunden zu. Natürlich alles nur Spaß.

Jorge seufzt. Eigentlich war ihm der Ausgang des Matches schon die ganze Zeit klar gewesen. „Auf uns liegt ein Fluch“, sagt er bitter, aber gefasst. Auch Noé bewahrt Haltung, aber „es ist auch eine Menge Frust dabei, dass Portugal so scheiße gespielt hat.“ Sein Team habe nicht wirklich alles gegeben. „Die müssen Rasen fressen!“ In Portugal, so Jorge, „lebt man mehr, aber es gibt auch mehr Chaos“.

Von wegen. Plötzlich stürmt laut jubelnd eine blau-weiß geschminkte Delegation vom Griechen nebenan herein. Jorge und seine Landsleute gratulieren mit Handschlag und einer Runde Schnaps. Wenn die Portugiesen auch die Europameisterschaft verloren haben: Im fairen Verlieren sind sie Weltmeister.

Till Stoppenhagen