Sülze-Unruhen im Konsummuseum

Das jüngste Museum Deutschlands fängt klein an. Genossenschaften beleben die Wirtschaftsgeschichte – vom kulturellen Mehrwert bis zum ersten Selbstbedienungsladen des Landes. Tiefschlag war die Pleite von Coop

HAMBURG taz ■ Verbraucher als Revolutionäre? Ja, jedenfalls im Nachkriegsjahr 1919 in Hamburg. Fabrikant Jacob Heil lässt in der hafennahen Reichenstraße feine Delikatesssülze produzieren und verkauft sie zu stattlichen Preisen. Der Absatz floriert, bis beim Entladen eines Pferdefuhrwerks ein Fass zerbricht. Der Inhalt stinkt bestialisch, was hungernde Hamburger bewegt, in der Fleischfabrik einmal nach dem Rechten zu sehen. Dort verschlägt es den ungebetenen Besuchern den Appetit, denn die leckere Sülze wird aus Kadavern von Hunden, Katzen und Ratten hergestellt.

Hamburgs Verbraucher reagieren stinkig. Fabrikboss Heil wird gehörig verprügelt und in die Alster geworfen, einige Wachtmeister retten ihn ins benachbarte Rathaus. Als bald darauf auch aus anderen Lebensmittelwerken unsaubere Zustände bekannt werden, kocht der Konsumentenzorn über: Rathaus, Stadthaus und Gericht werden gestürmt. Erst Ostafrika-General Paul von Lettow-Vorbeck schlägt mit seinen 10.000 Freikorps-Kämpfern und Panzern die Verbraucherrevolte nieder.

Doch die Sülze-Unruhen hatten auch erfreuliche Folgen, sie stärkten die jungen Konsumgenossenschaften. Wurst, Reis und Konserven, die über den Ladentisch der Genossen gingen, galten als sauber, gut und dazu billig. Um in diesen Kaufgenuss zu kommen, musste man aber Mitglied einer Konsumgenossenschaft sein. 1922 war „Verbraucher schließt euch zusammen“ eine populäre Losung, der Millionen Arbeiter- und Angestelltenfamilien folgten. Die 1.350 Konsumvereine boten auch einen kulturellen Mehrwert, waren alltäglicher Treffpunkt und sogar Teil der Freizeit. So waren nicht nur eigene Liederbücher im Angebot, sondern auch flotte Konsumsongs, in denen die Sonne hinterm Horizont aufging. Jedoch waren Käufer, die zugleich Eigentümer waren, nicht nur der kapitalistischen Konkurrenz verdächtig, sondern auch den Nazis. Was effizient war, wurde in den Faschismus integriert, was demokratisch war, eliminiert.

Für Burchard Bösche ist klar: „Wir waren die erste Verbraucherschutzorganisation in Deutschland.“ Der Vorstand des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften (ZDK) wirbt leidenschaftlich für das „Kind der Industrialisierung“, das längst nicht antiquiert ist. Im November eröffnete der Verband das Konsummuseum in Hamburg. Das wohl jüngste Museum Deutschlands dürfte zugleich eines der kleinsten sein. Aber eine halbe Stunde Besuch lohnt sich, denn die Genossen waren immer für eine Innovation gut, als Verbraucherschützer, aber auch als Vorreiter der Nahrungsmittelindustrie.

Um Qualität und Preis zu sichern, hatte der Großeinkauf bald nicht mehr ausgereicht, eigene Produktionsanlagen mussten her. Die proletarischen Genossenschaften wurden zum Vorreiter der industriellen Fleischwarenproduktion und von Backfabriken à la Kamps. 1952 wurde der erste Selbstbedienungsladen eröffnet – in der DDR. Vier Jahre später folgte der erste Supermarkt im Westen.

Im Wirtschaftswunderland BRD träumten viele Konsumgenossen vom Dritten Weg. Während sich ab 1968 die einen auf den Marsch durch die Institutionen machten und viele den Sozialismus hochleben ließen, bastelten andere, wie der Gewerkschaftsbankier Walter Hesselbach, an der „Gemeinwirtschaft“, zu der sich neben den Konsumgenossenschaften, die nun als „Coop“ firmierten, der Versicherungskonzern Volksfürsorge, die Großbank BfG und die Wohnungsgesellschaft Neue Heimat gesellten. Aber in den Achtzigerjahren bricht das gemeinwirtschaftliche Imperium kläglich zusammen. Um die Gründe wird noch heute gestritten. Managementfehler und Großmannssucht, Betrügereien des Coop-Bosses Bernd Otto, aber auch die kapitalstarke Konkurrenz der Discounter auf der grünen Wiese und der Billig-Filialisten wie Aldi trieben viele Konsumgenossen in die Pleite.

Trotz einiger Debakel hält ZDK-Vorstand Bösche die Idee der Genossenschaft für „eine hochmoderne Geschichte“. Der Lebensmittelmarkt in Skandinavien, Schweiz oder Italien wird von Konsumgenossenschaften bestimmt, es gibt Waldorfschulen oder Genossenschaften von Behinderten. In manchen Gemeinden, in denen der letzte Spar-Laden verschwunden ist, haben Bewohner eine Konsumgenossenschaft gegründet. Ständig entstehen im modernen Kapitalismus neue Nischen, die zu wenig profitabel erscheinen. Das diese erfolgreich besetzt werden können, versucht eines der bekanntesten Mitglieder des Genossenschaftsverbandes ZDK zu beweisen, die taz.

HERMANNUS PFEIFFER