Mehr Zeit für mehr Arbeit
: Warschau: Lob der Flexibilität

VON GABRIELE LESSER

Polen lieben es, sonntags einkaufen zu gehen. Der Friseur hat offen, der Tante-Emma-Laden um die Ecke, wo es ab 6 Uhr früh auch am Sonntag frische Brötchen gibt. Nach dem traditionellen Kirchgang zieht es viele Familien immer öfter in die großen Einkaufszentren.

Kinos, Fitnesscenter, Bowlingbahnen, Boutiquen, Restaurants und Cafés – alles hat geöffnet. Überall wird gearbeitet. Zwar mahnt die katholische Kirche von Zeit zu Zeit das dritte Gebot an: „Du sollst den Feiertag heiligen“, doch angesichts einer Arbeitslosenrate von fast 20 Prozent oder 3,3 Millionen Menschen ohne Arbeit ist dieser Protest immer schwächer geworden.

Auch Polens Gewerkschaften kämpfen nicht für weniger, sondern für mehr Arbeit. Sonntags- und Nachtarbeit sind nicht das Problem. Flexibilität wird in Polen groß geschrieben. Aber der Lohn muss stimmen, die Pausen und auch der Urlaub. Zwar ist die 40-Stunden-Woche mit freiem Samstag und Sonntag nach wie vor die Norm, doch die Arbeitszeit kann relativ frei vereinbart werden. Wichtig sind den Polen die Feiertage und der Urlaub. Insgesamt sind in jedem Kalenderjahr 52 Samstage frei, außerdem 11 Feiertage und 26 Tage Urlaub. Wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber diese freie Zeit tatsächlich über das Jahr verteilen, ist aber Verhandlungssache. Fällt ein Feiertag auf einen Samstag oder Sonntag, muss es einen zusätzlichen freien Tag geben.

Interessanter als die Arbeitszeiten finden Polen die Frage, wie viel andere auf einem vergleichbaren Arbeitsplatz in der Konkurrenzfirma verdienen. Ob dort eine andere, eventuell höhere Leistung erbracht werden muss. Seit Jahren schon geht der Blick immer wieder über die Grenze: Wie viel verdienen die Kollegen in Deutschland, Frankreich, Österreich? Die Angst vor dem großen Braindrain hat sich jedoch gelegt. Polens hoch qualifizierte Computerspezialisten, Fachärzte und Ingenieure verlassen das Land nicht massenhaft. Vielmehr machen sich viele selbstständig oder heuern bei westlichen Firmen an, die nach Polen kommen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung zeigt nämlich, dass zwar das Einkommensniveau in Polen wesentlich niedriger liegt als in den westlichen und nördlichen Nachbarländern, doch auch Steuern und Sozialversicherung, die Lebenshaltungskosten allgemein in Polen liegen weit unter denen im Ausland. Auch wenn die Menschen hier länger arbeiten und flexibler sein müssen als ihre westlichen Kollegen.