In jeder Imbissstube ein Spion

Der Exot, der mit langem Messer hantiert: Das schmerzhaft originelle Quartettspiel „Döner Berlin“ demonstriert eindrucksvoll, dass hannoverschen Werbegrafikern die Berliner Ökonomie noch immer nicht geheuer ist

Deutsche Kebabträume geraten auch ohne Mauer weiterhin schwer psychedelisch, allerdings muss das Verstörende in der „Türk-Kültür“ dieser Tage einer weich gespülten Witzigkeit weichen: Nach Plattenbauten und Eminems-Ghetto-Freunden gibt es jetzt auch Berlins Dönerläden in Form eines Quartetts – als schmerzhaft originelles Mitbringsel vom Hauptstadt-Besuch.

Das Retro-Medium soll natürlich vor allem echt komisch sein und dürfte kaum zum Spieleinsatz kommen. Schon die Verpackungsanmutung riecht nach totalitärem Schulhofgebaren und erinnert damit an die Motivation von DAFs Gabi Delgado, seine Kebabträume von 1979 im Refrain „Wir sind die Türken von morgen“ münden zu lassen, um deutschen Bürgern und Hippies das Gruseln zu lehren. Die Berliner Ökonomie ist dem westdeutschen Gemüt aber auch 25 Jahre später noch nicht geheuer: Die Hannoveraner Grafiker vom „Pool 72“ hätten ihre Quartettmotive zwar auch vor der eigenen Haustür finden können, aber erst die Berliner Nacht erschloss das Bewusstsein für die „starke Präsenz [der] Dönerbuden mit ihrer Trash-Optik“.

Logisch, dass aus dieser Eingebung ein striktes „Spaß“-Projekt entstehen musste: „Kommerz machen wir in unserem Alltag schon genug“, erklären die Inspirierten dem Jetzt-Magazin. Das versteht man in München, und in Frankfurt kann man es sogar artikulieren: „Viele klassische Dönerkonsumenten in der Hauptstadt kommen aus ihrem Kiez selten heraus, verfügen über geringe Einkommen, aber hohe Sozialkompetenz, schätzen gewachsene Strukturen und wollen auch schon mal um zwei Uhr nachts in eine türkische Pizza beißen“, lehrt die FAZ zum Thema. Die Perspektive verharrt damit aber genau wie das „Döner Berlin Quartett“ strikt vor der Theke, wo die Touristen die karrierescheuen Zugezogenen possierlich finden können.

Wirklich fremd bleibt die andere Seite, auf der rund um die Uhr der Exot mit dem großen Messer hantiert. Warum er das tut, scheint unfassbar und muss daher im Quartett in der Kategorie „Entfernung bis Istanbul Zentrum“ verhandelt werden. Dass sich diese Kilometerangabe nur in der letzten von vier Zahlen unterscheidet, unterstreicht die durchgehende Fremdheit des Personals eindrücklich, auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Quartettmacher den Einfall schlicht für einen gelungenen Genre-Witz halten. Die einzige weitere Quartettkategorie, die sich mit den Imbissbetreibern beschäftigt, läuft nach dem gleichen Schema: Die „Anzahl der Brüder“ dürfte als Erkan&Stefan-Kalauer gedacht sein, funktioniert aber gleichzeitig wunderbar als Argumentation, warum die Türkei noch nicht „europareif“ sein soll.

Die Witzigkeit kennt aber natürlich keine EU-Grenzen und daher bleibt das Quartett so fade, klumpig und fettig wie die durchschnittliche „Döner-Tasche“, womit auch der vitale Zusammenhang aus Öffnungszeiten, Alkoholversorgung und Selbstausbeutung, in dem das billige Pressfleisch nur dem Namen nach eine Hauptrolle spielt, schleierhaft bleiben muss: In der Döner-Ökonomie geht es – wie fast überall in der Gastronomie – nicht ums Essen, sondern ums Trinken, und dieser Beschäftigung wird in Berlin eben besonders gerne und besonders billig und dank der Dönerbude gerne rund um die Uhr gefrönt.

Demnach ist der gewaltige Anteil der Dönerläden am „Berliner Urbanisierungsprozeß seit 1971“, den die FAZ ausmacht, schlicht ein Ausdruck des hiesigen Drogenkonsums – von den nächsten westdeutschen Designern wünschen wir uns daher ein Quartett mit den toten Junkies aus der BZ der 80er. ANTON WALDT

Döner Berlin, Gestalten Verlag, 32 Blatt, 6,90 Euro