Siemens macht den Weg für Arbeitgeber frei

Der Gelsenkirchener Arbeitszeitforscher Sebastian Schief befürchtet Vorstöße zu weiteren Arbeitszeiterhöhungen

GELSENKIRCHEN taz ■ Für Sebastian Schlief, Forscher am Gelsenkirchener Institut Arbeit und Technik, ist die Sache klar: „Es gibt möglicherweise Produktionen, die auf Dauer nicht in Deutschland bleiben können.“ Ihn erinnert die Diskussion, die über Arbeitszeitverlängerung anhand der beschlossenen Mehrarbeit in den Siemens-Werken Kamp-Lintfort und Bocholt geführt wird, an die 70er Jahre. „Damals ging es um die Textilarbeiter. Heute haben wir praktisch keine Textilfabriken mehr in Deutschland“, sagt Schief.

Dass Deutschland im EU-Vergleich der Jahresarbeitszeiten entgegen der Behauptung vieler Arbeitgeber im Mittelfeld liegt, hat Schief im Mai dieses Jahres mit der Veröffentlichung seiner Untersuchung „Jahresarbeitszeiten als Standortindikator? Hintergründe zur fragwürdigen Nutzung internationaler Vergleiche“ nachgewiesen. Untersucht wurden die EU-Mitgliedsländer des Jahres 2002. Verfechter von Arbeitszeitverlängerungen in Deutschland führen die deutschen Arbeitnehmer oft als „Freizeitweltmeister“ vor, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Wer Schiefs Untersuchung zu Rate zieht, erfährt, dass die Jahresarbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten in Großbritannien mit 1.962 Stunden im Jahr am höchsten, in Frankreich mit 1.689 Stunden am niedrigsten sind. In Deutschland arbeiten Vollzeitbeschäftigte im Schnitt 1.760 Stunden im Jahr.

Dass die Siemens-Produktion nach Ungarn ausgelagert werden sollte, kommentiert Schief so: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine große Lücke klafft, zwischen Ankündigungen und tatsächlichen Verlagerungen.“ Problematisch sei, dass die Manager, die mit Betriebsverlagerungen liebäugelten, nie volkswirtschaftlich, sondern immer nur betriebswirtschaftlich dächten, sagt Schief. „Die Arbeitszeiterhöhung bei Siemens führt auch dazu, dass das Lohnniveau in den neuen Beitrittsländern nicht so schnell steigt“, sagt der Forscher.

Dabei sei die Öffnungsklausel, die der Tarifvertrag der IG Metall innehabe, nicht das Problem, denn der besage, dass die Gewerkschaft im Falle von Ergänzungstarifverträgen für Betriebe in Not mit im Boot sitze. „Die Gewerkschaft ist nur momentan in einer sehr schwierigen Situation.“ Nach den gescheiterten Streiks in Ostdeutschland habe die Gewerkschaft bei Siemens unter Druck gestanden, sagt Schlief, „die waren in einem richtigen Dilemma“. Denn niemandem sei vermittelbar, dass es bei der Siemens-Mehrarbeit um die Rettung der Firma gegangen sei, „die wollten die Fertigung ja nur in Ungarn wieder neu aufbauen“.

Die Gewerkschaften hätten das Problem gehabt, dass sie sich auf die Standortdiskussion eingelassen haben und vielleicht „kommt demnächst die Frage: Warum nicht Rumänien, da hätte ich dann nur noch 10 Prozent der Personalkosten“?

Aber auch im Binnenmarkt könnte der Ergänzungstarifvertrag Folgen haben. „Was sagen Sie dem Unternehmer, der sich beschwert: ‚Das ist Wettbewerbsverzerrung, wir wollen jetzt auch die 40-Stunden-Woche‘? Ich befürchte, das wird ein Dammbruch!“ Dem Arbeitsmarkt im Land nütze auf Dauer nur Investitionen in Köpfe, sagt Schief. „Zudem brauchen wir mehr Innovationen.“ ELMAR KOK