Zwischen Morgen und Grauen

Die IG Metall muss dringend zur Gemeinwohl-Orientierung zurückfinden – denn Gewerkschaften, die nur die Arbeitsplatzbesitzer vertreten, haben keine Zukunft

Gebraucht werden neue Ideen, moderne Arbeitsstrukturen und transparente Entscheidungsprozesse

Die IG Metall steckt in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Erst der gescheiterte Versuch, massenhaft Mitglieder gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren. Dann das erfolglose Unterfangen, durch Streik die Arbeitszeit im Osten anzugleichen. Und jetzt der Kommunikations-GAU um die Zwickel-Nachfolge. Vordergründig geht es dabei um personelle Weichenstellungen – im Kern aber dreht sich die Diskussion um die Frage, welche Richtung die Gewerkschaft angesichts veränderter Herausforderungen einschlagen soll.

Laut Zahlen des „Politbarometers“ wollen 44 Prozent der Bevölkerung, dass sich die so genannten Reformer durchsetzen. Nur 5 Prozent hoffen auf die „Traditionalisten“. Bei den Gewerkschaftsmitgliedern will sogar die Mehrheit von 51 Prozent, dass die „Modernisierer“ gewinnen, nur 8 Prozent haben sich für die traditionelle Strömung ausgesprochen. Diese Zahlen zeigen, wie tief die Kluft zwischen Mitgliedern und Funktionären geworden ist. Noch alarmierender ist, dass der Führungsstreit und der Richtungskonflikt der IG Metall die Bevölkerungsmehrheit ziemlich kalt lässt: 14 Prozent können sich überhaupt keine Meinung bilden, und 37 Prozent ist es schlicht egal, wer die Oberhand gewinnt.

Ohne diese Momentaufnahme überbewerten zu wollen, deutet sie doch zwei Trends an. Erstens: Die IG-Metall-Spitze leidet unter einem Legitimationsdefizit im Inneren. Zweitens: Die Gewerkschaft droht den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren. Die Art der öffentlichen Personaldebatte hat die IG Metall als Ganzes Glaubwürdigkeit gekostet. Schlimmer noch: Durch das Ignorieren der realen Umwelt ist sie dabei, ihre Gestaltungsfähigkeit und Zukunftstauglichkeit aufs Spiel zu setzen.

Unbestritten ist, dass die ökonomische Wachstumskrise kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern eine strukturelle Schwäche der deutschen Wirtschaft. Auf absehbare Zeit sind keine Wachstumsraten zu erwarten, die zu einem durchgreifenden Beschäftigungsaufbau führen werden. Die Folgen sind, dass der Konsolidierungsdruck auf die öffentlichen Haushalte anhält, der Anpassungsdruck auf die sozialen Sicherungssysteme nicht nachlässt und der Spielraum für öffentliche Investitionen eng bleibt. Dieses Szenario bietet keine guten Aussichten für eine Gewerkschaft, die in staatlichen Investitionsprogrammen den Schlüssel zur Konjunkturankurbelung sieht und die Verteilung von Zuwächsen zum Credo ihrer Tarifpolitik macht.

Die IG Metall braucht mehr betriebsnahe Lösungen und muss mit differenzierten Angeboten dem Wandel der Arbeitswelt Rechnung tragen. Die Aktivierung von Feindbildern ist keine Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, Oppositionsmentalität ist kein Politikersatz. Die IG Metall hat bislang nicht begriffen, dass die Orientierung der SPD auf die politische Mitte keine kurzfristige Wahlstrategie ist. Sie ist ein langfristiges Konzept, das Regierungstätigkeit sichern und Mehrheitsfähigkeit stabilisieren soll. Teile der Gewerkschaften neigen dazu, darauf mit einer Re-Traditionalisierung ihrer Politikangebote und einer Re-Ideologisierung der politischen Auseinandersetzung zu reagieren.

Aber die Gewerkschaften sollten auf den politischen Wandel nicht mit verschlossenen Türen reagieren, sondern mit geöffneten Fenstern. Sie brauchen neue Ideen und, zuallererst, moderne Arbeitsstrukturen und transparente Entscheidungsprozesse. Die Mitglieder erwarten eine klare und eindeutige politische Orientierung von ihrer IG Metall. Die kann heute aber weniger denn je von oben verordnet werden, wie nicht zuletzt der Tarifkonflikt im Osten gezeigt hat. Notwenig ist, Mitglieder und Ehrenamtliche am Prozess der Meinungsbildung aktiver und einflussreicher zu beteiligen.

Stärke Mitwirkung heißt, offene Formen der Beteiligung zu suchen und attraktive Foren zu schaffen, etwa mit Veranstaltungen und Tagungen, die nicht minutiös durchgeplant, sondern ergebnisoffen sind. Die IG Metall braucht den Erfahrungsschatz ihrer Mitglieder und sollte auch das Praxiswissen gewerkschaftlich Interessierter besser nutzen. Belegschaftsbefragungen, Mitgliederbegehren, direkte Beteiligung durch Entscheide, „Gegen“-Kandidaturen und Wahlämter auf allen Ebenen sind kein Ausdruck von Führungsschwäche, sondern Beleg dafür, dass mehr Demokratie gewagt wird.

Organisationsreform an Haupt und Gliedern und gesellschaftliche Öffnung müssen sich ergänzen. Strukturprinzipien wie Disziplin, Geschlossenheit, Hierarchie und Einheit haben die Gewerkschaften des Industriezeitalters stark gemacht und prägen sie bis heute. Gewerkschaften stehen für Regulierung, Sicherheitsdenken und Besitzstandswahrung. Der gesellschaftliche Diskurs kreist hingegen um die Dezentralisierung von Strukturen, die Autonomie der Akteure und die Verantwortung jedes Einzelnen.

Die Aktivierung von Feindbildern ist keine Antwort auf neue gesellschaftliche Herausforderungen

Natürlich wäre es falsch, wenn die Gewerkschaften jedem Trend hinterherliefen oder sich aus einer Position der vermeintlichen Schwäche überanpassen würden. Aber ebenso macht es keinen Sinn, die Geschwindigkeit zu erhöhen, wenn man in die falsche Richtung steuert. Vielmehr sollten sich die Gewerkschaften öffnen für die Debatte, die seit Jahren um den Begriff Zivilgesellschaft geführt wird. Aktive Beteiligung an dieser Debatte heißt nicht, der Zerstörung des Sozialstaats Vorschub zu leisten. Sondern endlich Anschluss zu finden an zentrale Aspekte gegenwärtiger Debatten: Wo kann der allzu fürsorgliche Staat auf Kompetenzen verzichten und Verantwortung abgeben? Wie kann die Macht des Marktes begrenzt werden, ohne ihn durch Überregulierung zu strangulieren? Wie können die gesellschaftlichen Kräfte gestärkt werden, die eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft verhindern, ohne diese zu überfordern?

Die IG Metall muss Antworten auf diese Fragen suchen. Die Blockade von Diskussionen und der Verweis auf Bewährtes bringen sie nicht weiter, sondern führen in die programmatische Sackgasse. So kann sich die Gewerkschaft ihre Selbstzufriedenheit bewahren – langfristig jedoch gleitet sie in die gesellschaftliche Isolation und ins politische Abseits. Die Gewerkschaften haben eine große Vergangenheit. Welche Zukunft sie haben, wird sich nicht zuletzt daran zeigen, ob sie zur Gemeinwohl-Orientierung zurückfinden.

Dazu ist wichtig, die Interessen der Mitglieder aufzunehmen, zu bündeln und diese Vielfalt solidarisch zu gestalten. Entscheidend wird zudem sein, ob die Gewerkschaften mit neuen gesellschaftspolitischen Konzepten wieder breiten Zuspruch bei der Mehrheit der Bevölkerung finden. Unerlässlich für Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ist aber auch, dass sie durch tarifpolitische Praxis die Zugangsvoraussetzungen für die erleichtern, die heute kaum noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Als reine Lobby für die Arbeitsplatzbesitzer verlieren die Gewerkschaften den für ihr Überleben entscheidenen Anspruch: mehr zu sein als ein x-beliebiger Interessenverband. JUPP LEGRAND