Old Europe in Istanbul

Auf dem Nato-Gipfel ist Standhaftigkeit der Europäer gefragt: Korrigieren die USA ihre Irakpolitik nicht grundlegend, muss sich das Militärbündnis aus dem Land heraushalten

Präsident Bush kommt nicht im härenen Gewand des Büßers nach IstanbulNiemand will die USA im Regen stehen lassen. Es nutzt aber nichts, sich zu ihnen in die Nässe zu stellen

Mit dem heute beginnenden Nato-Gipfel in Istanbul schließt sich ein Konferenzreigen, in dem die Staatsmänner der westlichen Welt im Juni an verschiedenen Orten in verschiedenen Rollen immer das gleiche Subthema besprochen haben: Wie geht es mit der atlantischen Allianz weiter? Kehrt sie zu ihrer alten hegemonialen Figur zurück mit den USA als politikbestimmender Spitze, oder baut Europa seinen Anspruch auf Mitbestimmung weiter aus? In Istanbul muss sich zeigen, wieweit diese Machtkonkurrenz gediehen ist. Wie im vorigen März ist der Streit um den Krieg gegen den Irak auch ein Kampf um die Machtverteilung in der Nato.

Zweifellos hat Präsident Bush seine Politik verändert. Er ist in den Rahmen der Vereinten Nationen zurückgekehrt (wie 2002 schon einmal), den er am 19. März so stolz verlassen hatte. Denn der Krieg gegen den Irak verlief nicht nach seinen Erwartungen, sondern nach den europäischen Befürchtungen. Die steigende Zahl der Opfer – rund 800 GIs sind nach dem Ende des Krieges gefallen – und die wachsende Instabilität im Irak legen es Bush mehr als nahe, die Verantwortung in fremde Hände zu geben. Dass in Abu Ghraib massiv gefoltert wurde, hat Bush auch seine letzte Rechtfertigung der Invasion gekostet, die Absetzung eines Tyrannen und die Wiederherstellung von Recht und Ordnung. 52 Prozent der Amerikaner sind laut einer Umfrage jetzt der Meinung, dass der Irakkrieg ein Fehler war. Und am zweiten November wird in den USA der Präsident neu gewählt.

Aber Präsident Bush kommt nicht im härenen Gewand des Büßers nach Istanbul. Er wird am 30. Juni Teile von Souveränität und Verantwortung an eine provisorische Regierung abgeben, deren Mitglieder von L. Paul Bremer 3rd, dem „Diktator des Irak“ (Brahimi), handverlesen worden sind. Premierminister Ijad Alawi ist ein alter Bekannter der CIA, viele seiner Minister sind Auslandsiraker mit westlichen Pässen. In jedem Ministerium dieser Regierung sitzt mindestens ein amerikanischer Berater. 130.000 US-Soldaten werden im Irak auf Dauer stationiert bleiben. An der Absicht Washingtons, den Irak weniger zu befreien als zu besetzen und späterhin als militärisches Glacis für die amerikanische Politik im Mittleren Osten zu benutzen, hat sich also nichts geändert.

Von einer stärkeren Beteiligung der UN an der Übergangsverwaltung ist nicht einmal mehr die Rede. Ihr Repräsentant Lakhdar Brahimi wurde, wie er selbst sagt, bei der ihm aufgetragenen Auswahl der Mitglieder der vorläufigen Regierung von den USA schlicht ausmanövriert. Bushs Taktiken sind weicher geworden, seine Ziele nicht.

Das schwant auch den Verbündeten. Bush ist ihnen im Vorfeld des Istanbuler Treffens scheinbar entgegengekommen, weil er weiß, dass weder Frankreich noch Deutschland Truppen in den Irak schicken werden. Deswegen hat der provisorische Ministerpräsident Alawi auch nur „technische Unterstützung“ von der Nato erbeten. Da kann man doch, wie deren Generalsekretär de Hoop Scheffer bereitwillig feststellte, die „Tür nicht einfach zuschlagen“. Ist sie aber erst mal offen und die Allianz im Irak, ergibt sich alles andere von selbst. Als Teil der amerikanischen Besatzung gerät sie in das Visier des irakischen Widerstands. Dann wird sie, wie es sich gehört, zurückschießen – und prompt in der Falle sitzen, die sich ihr in Istanbul jetzt öffnet.

Afghanistan ist das Vorbild: Hier ist die Nato inzwischen voll engagiert – und mitten im Schlamassel. Dennoch denkt sie seit dem vorigen Jahr darüber nach, sich auch bei „Enduring Freedom“ zu engagieren, dem globalen Kampf gegen den Terror. Ganz unauffällig dient sie gegenwärtig schon den Golfstaaten ihre „Partnerschaft für den Frieden“ an. Es ist also gar nicht auszuschließen, dass sich die Nato auf ihrem Istanbuler Gipfel über die von Präsident Bush befahrene Schiene des Zusammenspiels transnationaler Bürokratien zum Eingriff im Irak verpflichten lässt. Im zweiten Anlauf, außerhalb des Sicherheitsrats und mit Hilfe der von den USA dominierten Entscheidungsmechanismen der Nato, hätte Präsident Bush dann sein Ziel vom vorigen März erreicht. Das westliche Bündnis marschiert hinter den USA auf und übernimmt die Absicherung der von Amerika eroberten Länder. So hatte sich das die Regierung George W. Bush – man erinnere sich – von Anfang an vorgestellt.

In Afghanistan haben die Europäer, vor allem die Deutschen, mitgespielt, weil dessen Beziehung zu al-Qaida und zum 11. September wenigstens behauptet werden konnte. Im Irak war das schon im vorigen März nicht möglich, heute ist es widerlegt. Um sich in die von den USA angerichtete Katastrophe im Irak hineinziehen zu lassen, müsste sich das Bündnis über den Löffel der von einem nicht legitimierten Ministerpräsidenten lancierten Anfrage balbieren lassen.

Man muss geradezu beten, dass Frankreich, Deutschland und Spanien, dass die Westeuropäer alles daran setzen, diesem Schicksal zu entkommen. Auf dem EU-US-Gipfel in Irland haben nicht nur Frankreich und Deutschland eine bemerkenswerte Standfestigkeit gegenüber Bushs Antiterrorstrategie an den Tag gelegt. Natürlich braucht der Irak Hilfe, natürlich will niemand hier die Amerikaner im Regen stehen lassen. Es hat aber auch keinen Zweck, sich zu ihnen in die Nässe zu stellen. Ganze zwei Prozent der Iraker, hat der irakische Regierungsrat bei einer Umfrage festgestellt, sind mit dem amerikanischen Krieg einverstanden. Die Gewalt im Irak wird nach der Regierungsübergabe am 30. Juni keinesfalls abnehmen. Sie wird erst aufhören, wenn das amerikanische Militär das Land verlassen und die von Washington eingesetzte einer von den Irakern gewählten Regierung Platz gemacht haben wird.

Der Bush-Krieg gegen den Irak hat den Terrorismus angeheizt, nicht verringert und in der Region „einen schockierenden Grad von Feindschaft gegen Amerika“ ausgelöst. Das amerikanische Außenministerium hat deswegen alle amerikanischen Staatsbürger aufgefordert, Saudi-Arabien zu verlassen. In 54 Ländern der Welt kann sich kein Amerikaner mehr risikolos blicken lassen.

Eine Politik mit solchen „Erfolgen“ darf nicht unterstützt, sondern muss geändert werden. Gerade der jetzt erforderliche Blick nach vorn zwingt die Europäer, ihre Hilfe im Irak davon abhängig zu machen, dass die Bush- Regierung den Fehler vom 19. März 2003 nicht nur kosmetisch verschönt, sondern korrigiert. Der Krieg kann nicht mehr rückgängig gemacht, wohl aber kann die amerikanische Besatzung zurückgezogen, die Übergangszeit im Irak unter internationale Aufsicht gestellt werden. Die Vereinten Nationen haben in Kambodscha erwiesen, dass sie als Verweser regierungsloser Staaten erfolgreich wirken können. Nur unter solchen UN-Vorzeichen kann die Nato – und mit ihr das amerikanische Militär – bei der Stabilisierung des Landes und seinem Wiederaufbau helfen. Old Europe hat voriges Jahr in New York Recht und Erfolg gehabt. Warum nicht jetzt auch in Istanbul? ERNST-OTTO CZEMPIEL