Strandidylle am Eisernen Vorhang

Auf der schmalsten Stelle des Priwall, einer Halbinsel in der Travemündung, verlief die „Zonengrenze“. Sie machte die Landzunge faktisch zur Insel.Den FKK-Strand direkt am Todesstreifen observierten die Grenzer besonders gern. Die Bewohner auf beiden Seiten sind sich noch heute fremd

von STEFAN SCHOMANN

Es ist ja nun alles ein bisschen plötzlich gekommen. Als Kinder haben sie Völkerball gespielt auf der Landstraße, da fuhr garantiert keiner durch. Dahinter war gleich Feierabend, da war die Welt zu Ende. Jetzt aber, da sie selber Kinder kriegen, jetzt kommt man kaum mehr rüber über die Straße vor lauter Verkehr.

Wenn die alten Priwaller am Sonntag beim Frühschoppen sitzen, der dann oft nahtlos in den Dämmerschoppen übergeht, dann werden selbst hartgesottene Biertischstrategen zu Geschichtsphilosophen. Denn ausgerechnet sie, deren Wochenendhäuschen im hintersten Winkel der BRD standen, sie haben die weltgeschichtlichen Wendungen an vorderster Front miterlebt. Auf der schmalsten Stelle des Priwall, dieser klauenförmigen Halbinsel in der Travemündung, verlief die „Zonengrenze“ und machte die Landzunge so faktisch zu Insel. Ja, seufzen die Veteranen, es war schon schlimm. Aber es war auch schön.

Traditionell galt der Priwall als Volksbad, als Lido der kleinen Leute. Hier war alles wilder und schmuddeliger als in Travemünde selbst, dafür von der Kurtaxe befreit. Wie eh und je bringt eine Fähre die Besucher über die hundert Meter enge Travemündung. Verglichen mit ihren großen Brüdern, die gleichzeitig am Skandinavienkai ein- oder auslaufen, erscheint sie winzig. Drüben gilt der erste Gang dann in der Regel der „Passat“, dem letzten großen deutschen Windjammer. Seit 1960 liegt der Viermaster hier als Museumsschiff vor Anker und beschwört ein unwiederbringlich dahingegangenes Zeitalter herauf. Gegenüber ragt der Turm des Maritim-Hotels über hundert Meter hoch in den Himmel. Seit gut dreißig Jahren dient er nun als Wahrzeichen und Leuchtfeuer und war zu Mauerzeiten auch ein Fanal gen Osten hin, so wie das Springer-Hochhaus in Westberlin. Es heißt, die Mauer in den grenznahen DDR-Dörfern sei eigens erhöht worden, um den Blick auf diese Provokation zu verstellen.

Hinter der „Passat“ beginnt dann, von einem knirschenden Velours aus Miesmuscheln gesäumt, einer der breitesten Strände der deutschen Ostseeküste. Weshalb der Priwall auch als Schauplatz des Sandworld- Festivals auserkoren wurde, das dieses Jahr zum zweiten Mal stattfindet. Eine regelrechte Stadt wächst dort empor, Bildhauer setzen die komplette Silhouette Lübecks und andere Ikonen der Region buchstäblich in den Sand. Hunderttausende von Besuchern werden erwartet.

Auch während der Travemünder Woche, die jedes Jahr Ende Juli Segler aus der halben Welt anzieht, oder während der Powerbootrennen im August geht es hoch her auf dem Priwall. Jenseits der Hauptsaison jedoch gibt sich dieser schmale Ausläufer der mecklenburgischen Küste eher elegisch. Sanddorn wächst neben der Telefonzelle, Pappeln tuscheln im Wind, die Salzgraswiesen rascheln seidig.

Ganz Travemünde, diese „schönste Tochter der Hansestadt Lübeck“, bildet im Grunde ein Geschichtsreservat. Insbesondere könnte man es als ein höchst lebendiges Museum für Tourismuskultur ansehen. 1802 als eines der ersten deutschen Seebäder eröffnet und zunächst vor allem vom Lübecker Geldadel frequentiert, entwickelte es sich bald zu einem der beliebtesten Kurorte Europas. Mit seinen vielen Villen, mit Kurhaus und Casino sichtlich ein Kind der Belle Epoque, gab Travemünde sich immer zugleich mondän und gediegen, distinguiert und volkstümlich. Familie Buddenbrook etwa, insbesondere die kapriziöse Tony, brachte hier gern den Sommer zu: „Die Reihe der hölzernen Strandpavillons mit ihren kegelförmigen Dächern ließ den Durchblick auf die Strandkörbe frei, um die Familien im warmen Sande lagerten: Damen mit Leihbibliotheksbänden, Herren in hellen Anzügen, die müßig mit ihren Spazierstöcken Figuren in den Sand zeichneten, gebräunte Kinder mit großen Strohhüten auf den Köpfen, die sich wälzten, nach Wasser gruben, mit Holzformen Kuchen buken, Tunnels bohrten …“

Manches Mal ruderte Fräulein Buddenbrook mit ihrem Verehrer Morten Schwarzkopf zum Priwall hinüber, um Bernstein zu sammeln. Es muss zu der Zeit gewesen sein, als dort die Pferderennbahn angelegt wurde, das erste nennenswerte Bauwerk.

Später hat der Priwall dann Luftfahrtgeschichte geschrieben: Anfang der Zwanzigerjahre unterhielt Dornier hier einen Wasserflughafen, und aus der benachbarten Flugmotorenfabrik Caspar ging schließlich die Lufthansa hervor. Mitten im Naturschutzgebiet stößt man noch auf die Reste einer alten Abfertigungshalle.

Wo heute der Mastenwald des Yachthafens wogt – einer der begehrtesten Liegeplätze der Republik –, lag im Dritten Reich ein U-Boot-Versorgungshafen mitsamt Marinearsenal. Er wurde ebenso zerbombt wie die angeschlossene Torpedo-Erprobungsstelle.

Heute deutet auf dem Priwall nichts mehr darauf hin, dass diese bescheidene Idylle einst ein kriegswichtiger Standort war. Das Gras wächst schnell hier, und die See tilgt alle Spuren. Selbst von den Grenzanlagen, die doch für die Ewigkeit geschaffen schienen, ist schon nichts mehr übrig. Kein Turm, keine Gitter, und die letzten Bunker verleibt sich die Natur ein.

In den Fünfzigerjahren teilte nur ein schlichter Zaun den Priwall. West und Ost konnten einander noch besuchen, und die Grenzer begingen gemeinsam Silvester. Dann aber wurden buchstäblich andere Seiten aufgezogen. Und so hatte zum Beispiel Ulrich Klempin über dreißig Jahre hinweg ein Sommerhäuschen am Eisernen Vorhang, eine der letzten Hütten vor dem Todesstreifen. Suchscheinwerfer erleuchteten sein Schlafgemach, und vom Turm aus schauten ihm die Grenzer beim Frühstück zu. Vor allem aber observierten sie den davor gelegenen FKK-Strand – es dürfte der gefragteste Wachturm des Ostblocks gewesen sein.

„Nachts schallte Hundegebell herüber, und ab und zu ging eine Mine hoch.“ Nicht nur die Rehe lebten gefährlich: „In den Erdbunkern lagen Grenzer auf der Lauer.“ Wer ein paar Schritte zu weit ging, weil der Strand dort so schön leer oder der Ball ins Gebüsch geflogen war, wurde kassiert. Tage später schoben sie die „Provokateure“ dann ab, oftmals nach Hof oder Helmstedt, der höheren Gebühren wegen. Das Handtuch lag die ganze Zeit über am Priwallstrand.

Im November 1989 schnitten die Grenzer schließlich ein Tor in den Zaun. Das Erste, was die Ostdeutschen vom Westen kennen lernten, war der „Priwalltreff“. „Die waren alle rührend scheu“, erinnert sich die Wirtin, die sie mit Freibier begrüßte. Zwei, drei Jahre lang mühten beide Seiten sich um gutnachbarliche Beziehungen, doch seither, so Klempin, „ist die Entfremdung wieder gewachsen“. Fast niemand pflegt heute noch Verbindungen „nach drüben“. „Und die fahren hier auch alle nur mehr durch.“

Einige Lübecker Mittelstandsfamilien hingegen haben sich in der einstigen Hochsicherheitszone angesiedelt, in Pötenitz zum Beispiel. Die dortigen „Bebauungsmaßnahmen“ auf der grünen Wiese muten so unwirklich an wie ihr eigenes Modell. Das Herz des Dorfes aber, das alte Herrenhaus, verfällt unterdessen. Ein Investor versprach der Gemeinde ein Traumhotel mit Golfplatz, Spa und Polofeld. Er brachte die Fördermittel sonstwo durch und ging dann Pleite. Zurück blieb ein Dornröschenschloss im Koma, und weit und breit kein Prinz in Aussicht.

„Nie wieder geteilt“, heißt es auf einem Gedenkstein. Die Priwaller aber müssen einräumen: „Inzwischen herrscht praktisch Funkstille. Da könnte fast wieder ’ne Grenze sein.“ Konsul Buddenbrook würde dies wohl mit seinem typischen Kopfschütteln quittieren: „Wie ist es möglich! … In diesen wenigen Jahren!“

Info: Tourist-Büro, Strandpromenade 1b, 23570 Travemünde. Tel. (0 45 02) 80 40, www.travemuende.de