Die Kopftuch-Schule

„Man will gezielt Einfluss auf die Kinder nehmen, um die Gesellschaft auf lange Sicht zu verändern“

AUS BERLIN SUSANNE AMANN

Manchmal kommt es darauf an, wen man fragt. Geschichten können unterschiedlich erzählt werden. Das ist so, wenn man anfängt, nach der ersten und bislang einzigen anerkannten islamischen Grundschule in Berlin zu fragen. Selten erhält man so unterschiedliche Bilder, hört man so unterschiedliche Geschichten.

Dabei ist es nicht einfach, Christa Petersen überhaupt zu fragen. Denn die Schulleiterin der Islamischen Grundschule ist vorsichtig geworden – auf jeden Fall gegenüber der Presse. Das ist verständlich, denn es ist viel geschrieben worden über ihre Schule. Ohne zu fragen, sind die Journalisten, die Fotografen, die Kamerateams gekommen, um über die Schule zu berichten, in der schon manche Erstklässlerinnen ein Kopftuch tragen und in der Fereshta Ludin unterrichtet – jene junge Lehrerin, die bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen ist, um mit Kopftuch unterrichten zu dürfen. Jene junge Muslimin, der Deutschland den „Kopftuchstreit“ zu verdanken hat.

Es dauert lange, bis Christa Petersen bereit ist, die Türen der in einem Kreuzberger Hinterhof gelegenen Schule zu öffnen. Erst nach schriftlicher Anfrage und der Zusicherung, den Text vorher lesen zu dürfen, ist sie bereit, die kleinen, bunten Räume zu zeigen, die sich mit ihren bunten Schülerzeichnungen an den Wänden durch nichts von anderen deutschen Grundschulen unterscheiden. Außer dass auf den Bildern anstelle von Kirchen Moscheen zu sehen sind. Und dass ein kleiner Raum im Erdgeschoss gleichzeitig als Moschee und Turnhalle genutzt wird.

„Der Islam ist unserem Schulalltag immer präsent“, sagt Christa Petersen, „das drückt sich eben auch in anderen Motiven in den Schülerzeichnungen aus.“ Oder in dem Wandschmuck, der noch vom Ende des Fastenmonats Ramadan im Eingangsbereich des mehrstöckigen, umgebauten Fabrikgebäudes hängt. „Wir wollen, dass unsere Kinder ihre Religion als etwas Natürliches begreifen, als selbstverständlichen Teil ihres Lebens, den sie weder rechtfertigen noch verstecken müssen.“

Seit 1989 gibt es die Berliner Schule, 1995 ist sie vom Senat staatlich anerkannt worden. Der trägt seither den Großteil der Personalkosten, der Unterricht orientiert sich am Rahmenplan. Das heißt, der Lehrplan gleicht dem der anderen Berliner Grundschulen, außer dass der Religionsunterricht mit vier Stunden mehr Platz einnimmt und dass Türkisch und Arabisch für Muttersprachler unterrichtet wird, auf freiwilliger Basis.

141 Kinder werden in sechs Klassen unterrichtet, mehr als die Hälfte hat türkische Eltern. Der Rest stammt aus arabischen, kurdischen, binationalen oder sonstigen Familien. Die Entscheidung für die Schule ist nicht zufällig. Aus allen Stadtteilen Berlins bringen die Eltern ihre Kinder, zahlen anstandslos 102 Euro Schulgeld jeden Monat, und das, obwohl mehr als die Hälfte der Familien Sozialhilfe oder Wohngeld bezieht. Nichtmuslimische Kinder gibt es nicht.

„Natürlich sieht man daran die Wertschätzung, die die Eltern unserer Schule entgegenbringen“, sagt Christa Petersen. „Hier sind die Kinder keine Außenseiter, ihre Religion steht im Mittelpunkt und gehört selbstverständlich dazu.“ Das sei wichtig, um sie selbstbewusst zu machen.

Petersen selbst ist Konvertitin, sie ist gebürtige Christin. Die Deutsche hat sich lange Jahre mit anderen Religionen beschäftigt, kam zuletzt vom Hinduismus zum Islam. Sie kennt sich aus in den verschiedenen Lebenswelten, bewegt sich sicher in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen. Ihre Schüler beherrschen das meist nicht. Deshalb will Petersen sie vorbereiten auf das Leben in der deutschen Gesellschaft. Sie unternimmt mit ihnen Klassenfahrten in andere Bundesländer, besucht katholische und evangelische Schulen, hat mit einer Klasse am Ökumenischen Kirchentag teilgenommen. Sie will „Begegnungen“ schaffen, Kontakte aufbauen zu einer Welt, die die Eltern ihrer Schüler meist nicht kennen und der sie schon gar nicht angehören. „Wir dürfen uns als Muslime nicht abkapseln, das schadet beiden Seiten.“

Zumal in einer Zeit, in der das Bild des Islam sehr verzerrt wahrgenommen werde. „Die Angst vor dem Islam ist extrem“, sagt Christa Petersen. Auch wenn sie es nicht nachvollziehen kann. „Der Islam ist eine friedliche, tolerante Religion, die offen ist für alle – denken Sie etwa an Spanien!“ Sie meint das Spanien vom 8. bis zum 15. Jahrhundert, übersieht dabei aber – gewollt oder nicht – den radikalen Islam von heute.

Denn Petersen verteidigt: sich, ihre Schule, ihre Schüler, den Islam. Sie wirbt für Toleranz, Vielfalt und gegenseitige Achtung. Und macht sich dabei angreifbar, weil sie sich nicht abgrenzt, weil sie keine deutliche Linie zieht, die radikalen Strömungen nicht beim Namen nennt und verurteilt. Sie zieht sich zurück auf Formulierungen wie „Extreme sind nie gut“ und sagt: „Ich akzeptiere nicht, dass das Kopftuch ein politisches Symbol sein soll.“ Stattdessen erklärt sie sich die Angst vor dem Islam mit einem geschichtlich bedingten Feindbild, das gebraucht werde, jetzt, nachdem der Kommunismus nicht mehr existiere.

Dabei muss sie ihre Schule nicht verstecken. Aus pädagogischer Sicht gibt es nichts zu beanstanden – ganz im Gegenteil. Das sagt auf jeden Fall Sanem Kleff von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Die Schule steht vor enormen pädagogischen Herausforderungen und wird ihnen mehr als gerecht: Der Unterricht erfolgt auf Deutsch, was für den Großteil der Kinder schon eine Zweitsprache ist. Dazu kommt der Arabisch-Unterricht, der nicht nur eine zweite Fremdsprache, sondern auch ein zweites Alphabet für die Grundschüler bedeutet.“

Das klar religiös orientierte Profil sei nicht anders als etwa bei einer katholischen Privatschule, meint Kleff. Auch hier würden religiöse Werte und Normen im Unterricht vermittelt. „Ich habe den Eindruck, dass das Kollegium den Druck von außen dadurch kompensiert, dass es besonders gute pädagogische Arbeit leistet“, so Kleff. „Die Kinder sind fit und machen vor allem nicht den Eindruck, dass sie sich schon in den Krallen der Taliban befinden.“

Aber es gibt eben auch Bereiche, die nichts mit den offiziellen Lehrplänen zu tun haben. Die Bereiche, die Kleff den „versteckten Stundenplan“ nennt. Es geht um die Zwischentöne, um das, was abseits der Stundenpläne vermittelt wird. „Da geht es etwa um die Definierung von Geschlechterrollen oder um die Beziehungen zur deutschen Mehrheitsgesellschaft“, so Kleff. Gefährlich sei die Grenzziehung in den Köpfen, die dabei stattfinde. „Es wird ein klares Weltbild vermittelt: Wir sind die Guten, die anderen sind die Schlechten, die Dekadenten.“

„Der Islam ist eine friedliche, tolerante Religion, offen für alle – denken Sie an Spanien!“

Und es gibt Fragen, auf die sehr unterschiedliche Antworten kommen. Etwa wenn man nach dem Trägerverein fragt, dem so genannten Islam Kolleg e. V., der Mitglied der Islamischen Föderation ist, die als Tarnorganisation von Milli Görüș bezeichnet werden darf. Dieser habe so gut wie keinen Einfluss auf die Schule, versichert Petersen. In den letzten Jahren habe es hier nie Konflikte gegeben, der Trägerverein habe sich immer herausgehalten.

„Die soziale Kontrolle und Beobachtung seitens des Trägers sind massiv“, sagt dagegen Sanem Kleff. „Vor allem, wenn es an Teilbereiche geht, die der Träger nicht preisgeben will.“ Vor einigen Jahren hatte das Kollegium – das im Übrigen nicht nur aus Muslimen besteht – versucht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einen Betriebsrat zu gründen. Das war vom Trägerverein nicht nur argwöhnisch beobachtet worden, sondern es gab im Vorfeld der Betriebsratswahlen massive Versuche, diese zu verhindern. Das konnte jedoch von der GEW erfolgreich abgewehrt werden. „Ein Betriebsrat wäre dem Träger zu sehr auf die Pelle gerückt, hätte das Recht gehabt, interne Papiere zu sehen oder etwa die Finanzierung zu kontrollieren.“ Trotzdem hat sich das Kollegium durchgesetzt: Inzwischen gibt es einen Betriebsrat.

Auch Claudia Dantschke lächelt nur, wenn man sie nach dem Einfluss des Trägervereins und der politischen Ausrichtung der Schule fragt. „Der Trägerverein und die Schule sind eingebettet in ein ganzes Konzept“, sagt die Autorin und Islamismusexpertin, die sich seit Jahren mit Milli Görüș beschäftigt. Zunehmend konzentrieren islamistische Vereinigungen ihre Arbeit auf den Bildungs- und Erziehungsbereich. „Das wichtigste Ziel für Gruppen des politischen Islam ist, sich im Jugend- und Bildungsbereich zu etablieren“, sagt Dantschke. „Man will gezielt Einfluss schon auf die Kinder nehmen – um die Gesellschaft auf lange Sicht strukturell zu verändern.“ Seit einiger Zeit beobachte sie verstärkte Bemühungen solcher Gruppen, Kitas, Kindergärten oder weitere Schulen zu eröffnen.

Diese Einschätzung teilt die Schulleiterin Petersen nicht. Für sie gibt es – zumindest an ihrer Schule – keine radikalen Strömungen des Islam. Für sie haben ihre Schüler alle Freiheiten – auch oder gerade in der Frage, wie sie mit ihrer Religion umgehen. Dass auch sechs- und siebenjährige Mädchen schon verschleiert in ihren Unterrichtsklassen sitzen, gehört für sie zur Freiheit dazu. „Jede kann das frei für sich entscheiden“, sagt Petersen, die selbst auf ihr Kopftuch nicht mehr verzichten möchte. Weil es von Äußerlichkeiten ablenke und eine „intensivere Innerlichkeit“ ermögliche. Ob sich sechs- oder siebenjährige Kinder tatsächlich frei entscheiden können, ist für sie keine Frage.

Für Petersen ist ihre Schule eine ganz normale Schule. Auch für Kleff ist es eine gute Schule, die allerdings einen islamistischen Trägerverein hat. Und für Dantschke ist die Schule nur Mittel zum Zweck. Es kommt also immer darauf an, wen man fragt.