Die Vorurteile unters Mikroskop legen

Cultuur! – Ein Oldenburger Festival eröffnet einen kleinen Grenzverkehr zwischen den Niederlanden und Deutschland: Im Grunde war das längst schon überfällig

EU-Gelder gibt’s keine:Die Nachbarnbegegnen sich ja ohnehin, weiß man in Brüssel

Wer würde schon von Drogen oder Nazis anfangen, wenn er so direkt gefragt wird? Die adrette Dame mit dem elektronischem Notizblock hat das Publikum überrumpelt. Klischees über Deutsche und Holländer? Käse und Tulpen punkten für die Niederlande, Ordnung und Pünktlichkeit gehen an Deutschland.

Der didaktische Zeigefinger sinkt aber wieder, kaum ist er hochgeschnellt: So einfach macht es Winfried Wrede mit seinem Tanz-Sprech-Stück Grenzgänger nicht, dessen Uraufführung das deutsch-niederländischen Festival Cultuur! in Oldenburg einleitete. Der Wahrnehmung ist nicht zu trauen, lehrt er: Was wie eine Waffe gehandhabt wird, wird Kamera genannt, ist aber ein Radio. Die Klischees sorgen für Orientierung: Deutsche strafen gern, und die anarcho-protestantischen Holländer tun nur, was ihnen passt. Dieses Muster liegt der Geschichte zu Grunde, die Schritt für Schritt bloßgelegt, aber nie enthüllt wird: Hat der alte Grenzer die Mutter des holländischen Mädchens einst an die Nazis verraten? In Wredes Stück ist die Grenze ein Ort verdrängter Erinnerung, des versteinerten schlechten National-Gewissens.

Wie Deutsche und Niederländer Grenzen realiter überwinden, zeigt das Pilotprojekt Cultuur! Da lebten die Oldenburger und die Groninger nebeneinander her, aber der Austausch beschränkte sich auf wechselseitige Shopping-Heimsuchungen. Bis vom Bodensee ein grenzerprobter Intendant ans Oldenburger Staatstheater wechselte. Rainer Mennicken trat, wie er sagt, „einen Schneeball los“: alle Oldenburger Kulturinstitutionen bereiteten in Kooperation das Festival vor.

Die Kultur in den Niederlanden sprieße auf dürrem Boden, erläutert der Intendant: Ein System von Stadt- und Staatstheatern sei unbekannt, die Ensembles müssen tingeln. Die Folge: Minimalistische Ausstattung, aber oft auch maßstabsetzende Qualität. Das Puppentheater des australischen Wahl-Amsterdamers Neville Tranter zum Beispiel vergleicht Mennicken kühn mit Tabori. Schicklgruber heißt das Programm nach dem Geburtsnamen Adolf Hitlers und zeigt die letzten Tage im Führerbunker. Bevor die Puppe mit dem Seitenscheitel überhaupt das Bärtchen angeklebt bekommt, schüttelt sich das Publikum schon vor Lachen. Das Medium Puppenspiel, der Sprachmix im „Volk“- und „Führer“-Gebell schaffen enorme Distanz.

„Die ererbten Vorurteile unters Mikroskop“ zu legen sei das inhaltliche Konzept gewesen, so Mennicken. Nicht als Schwerpunkt geplant war die Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus. Dennoch nimmt sie breiten Raum im Programm ein: So zeigen die Ausstellungsmacher der KZ-Gedenkstätte Kamp Westerbork, dass sich der Mord an den niederländischen Juden nicht „auf einem anderen Planeten“ abgespielt hat. Das Lager, wo vor der Besatzung Flüchtlinge aus Deutschland interniert wurden, hatten die Besatzer bequem übernehmen können. Sie sammelten hier ihre Opfer für den Transport in die Vernichtungslager und wiegten sie in trügerischer Sicherheit: Keine SS-Schläger, keine Appelle. Stattdessen Sport und Kultur vom Feinsten. Jüdische Theaterstars, Musiker und Boxer boten Höchstleistungen und entgingen dadurch – vorläufig – den Gaskammern. Die Ausstellung „Lachen im Dunklen“ dokumentiert das Unglaubliche: Dass die Häftlinge das Beschwichtigungsprogramm genießen konnten, in harmlosen Späßen die Lager-Szene karikierten und noch nach der Befreiung die Revue-Liedchen sangen.

Ein ambitioniertes europäisches Festival – EU-Mittel erhält es allerdings nicht. „Die Nachbarn“ so der Sprecher der EU-Generaldirektion Kultur, würden „sich ja ohnehin begegnen“. Deshalb unterstütze Brüssels Kultur-Förderprogramm nur Events, bei denen mehr als zwei Länder beteiligt sind. abe

Bis 27. 06., Infos: www.cultuur.deLachen im Dunkeln: Arbeitslosenselbsthilfe OL, Kaiserstr. 19. Bis 30.06.