Tod eines Staatsdieners

Das Ableben des Waffeninspektors David Kelly wirft viele Fragen auf. Die Antworten kann Tony Blair kaum kontrollieren

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Er sei ein Mensch von höchster Integrität gewesen. Darin sind sich alle einig, die Dr. David Kelly kannten. Der 59-jährige britische Mikrobiologe im Dienst des Verteidigungsministeriums, der sich in der Nacht zum Freitag das Leben nahm, sei die „ehrlichste, bodenständigste und ausgeglichenste Person“ gewesen, die er kannte, sagte Steve Ward vom Hind’s Head, wo Kelly und seine Frau Janice häufig zu Abend gegessen hatten. Garth Whitty, einer der UN-Waffeninspektoren im Irak, sagte: „Ich kannte ihn als sehr professionellen, hart arbeitenden und integren Menschen.“ Ein Kollege im Verteidigungsministerium, der nicht genannt werden wollte, sagte: „Sie haben diesen anständigen und ehrlichen Menschen zerstört.“

Als der BBC-Reporter Andrew Gilligan Ende Mai in einer Radiosendung behauptet hatte, dass die Geheimdienste im vergangenen September auf Anweisung von Premierminister Tony Blairs Kommunikationschef Alastair Campbell ein Irakdossier „sexier“ gemacht hätten, um die Gefahr zu übertreiben und die Bevölkerung auf Krieg einzustimmen, begann die Jagd nach dem Informanten. Gestern erklärte die BBC, dass es Kelly gewesen sei.

Er hatte voriges Jahr am Regierungsdossier mitgearbeitet. Sein Beitrag beschränkte sich jedoch auf die Geschichte der UN-Waffeninspektionen im Irak. Kelly, der in Oxford studiert hatte, war seit drei Jahren Berater der Abteilung für Waffenexportkontrolle im Verteidigungsministerium. Zuvor hatte er dem Sonderausschuss der Vereinten Nationen (Unscom) angehört und war zu Inspektionszwecken 3-mal in den Irak gereist. Er hatte auch an den Untersuchungen des russischen Programms für biologische Waffen teilgenommen. Doch seine langjährige Erfahrung mit unkooperativen und bisweilen feindseligen Regierungsvertretern im Ausland habe ihn nicht für die Art von Verhör gewappnet, der er in den vergangenen Woche in der Heimat ausgesetzt war, sagte Garth Whitty.

Nachdem er seine Vorgesetzten informiert hatte, dass er mit Gilligan gesprochen habe, wurde Kelly von Regierungsbeamten vier Tage lang verhört. Sie drohten ihm mit Entlassung und einer Anklage wegen Geheimnisverrat, falls er nicht kooperiere. „Er dachte, er könne die Sache schnell aufklären, als er seinen Vorgesetzten informierte“, sagte ein Kollege. „Es war ja kein Geheimnis, dass er öfter mit Journalisten gesprochen hat. Er hatte keine Vorstellung, was er mit seiner freiwilligen Meldung auslösen würde.“

Kelly hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Die Regierung hatte ihm Anonymität zugesichert. Doch die Details, die sie über die angebliche BBC-Quelle veröffentlichte, schränkte den Kreis der Verdächtigen stark ein. Als ein Journalist beim Verteidigungsministerium nachfragte, ob es sich bei dem Informanten um David Kelly handle, gab Verteidigungsminister Geoff Hoon das sofort zu. Kelly musste sich an einem geheimen Ort verstecken, weil sein Haus fortan von Fernsehteams belagert war.

Er habe sich in Gilligans Radiobericht nicht wiedererkannt, sagte Kelly vorigen Dienstag vor dem Parlamentsausschuss. Es seien Dinge darin erhalten, die bei seinem Treffen mit Gilligan gar nicht zur Sprache gekommen seien, der BBC-Reporter müsse sich also auf eine andere Quelle bezogen haben. Kelly hatte seine Arbeit an dem Geheimdienstbericht bereits Anfang August vorigen Jahres abgeschlossen. Danach war er zwei Monate lang im Ausland. Außerdem hatte er nach eigenen Angaben gar keinen Zugang zu den meisten Geheimdienstinformationen. Die Behauptung, der Irak könne einige seiner Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten einsatzbereit machen, sei laut BBC erst eine Woche vor Veröffentlichung des Berichts hinzugefügt worden.

Der Ausschuss kam schließlich zu dem Ergebnis, dass Kelly nicht die BBC-Quelle war, doch die Regierung ließ sich dadurch nicht beirren. Ben Bradshaw, Staatssekretär im Umweltministerium und treuer Blair-Anhänger, sagte, man halte an Kelly als BBC-Quelle fest, solange der Sender die Sache nicht klarstelle. Gilligan erklärte jedoch, er sei verpflichtet, seine Quelle zu schützen. Offenbar hatte Kelly den Druck nicht mehr ausgehalten. Sein Freund, der frühere BBC-Reporter Tom Mangold, sagte, Kellys Frau habe ihm gegenüber von schweren Stresssymptomen gesprochen. „Sie sagte, er sei darüber krank geworden“, meinte Mangold. „Das sei keine Welt, in der er leben wollte.“ Am Donnerstagabend ging Kelly in den Wald in der Nähe seines Hauses, nahm ein starkes Schmerzmittel und schnitt sich die Pulsadern auf.

Familie, Freunde und Kollegen sowie die Medien stellen nun die Schuldfrage. Hat Gilligan genau dasselbe getan, was er der Regierung vorgeworfen hat? Hat er seinen Bericht über das Geheimdienstdossier, das auf Veranlassung von Blairs Kommunikationschef Campbell angeblich „sexier“ gemacht wurde, ebenfalls „sexier“ gemacht? Dann wäre nicht nur Gilligan, sondern auch die BBC, die ihn bisher gedeckt hat, diskreditiert, glaubt Campbell. Ein Sprecher der BBC beharrte gestern jedoch darauf, dass Gilligan sein Gespräch mit Kelly „akkurat wiedergegeben“ habe.

Die Regierung hat am Wochenende eine Untersuchung eingeleitet. Wenn es nach Blair geht, wird sie sich ausschließlich mit Kellys Tod beschäftigen. Der Irakwaffenbericht vom September vorigen Jahres soll nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Doch der 72-jährige nordirische Lordrichter Brian Hutton, der die Untersuchung leiten wird, kann so weit gehen, wie er es für richtig hält. Blair und seine Berater können es sich nicht erlauben, Huttons Betätigungsfeld einzuschränken. Schließlich ist überhaupt noch nicht geklärt, ob Campbell tatsächlich veranlasst hat, den Bericht „sexier“ zu machen. Bisher ging es nur um die Quelle für diese Behauptung. So wird Huttons Bericht, der für September erwartet wird, nicht nur über Kellys Tod befinden, sondern auch über Blairs politisches Überleben.