Die Minsker Tour de France

Landverschickung einmal anders: 20 weißrussische Schüler durchqueren Europa auf dem Fahrrad. Berlin ist Highlight, denn es ist immerhin eine „größere Stadt“

Fast schon ist es sozialistische Tradition, dass einmal im Jahr Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion Urlaub im westlichen Teil des Kontinents machen. Meistens kommen sie aus Tschernobyl, aus St. Petersburg oder, wie in dieser Woche, aus Weißrussland. Ungewöhnlich ist, dass der 20-köpfige Pulk diesmal nicht in Schönefeld landete, sondern mit dem Fahrrad bis nach Kreuzberg vorfuhr.

Eingeladen hatte der „Tschernobyl-Kinder e. V.“. Losgefahren waren die Kids des „Kinderfahrrad-Clubs“ aus dem weißrussischen Dorf Geine bei Minsk am 30. Juni. Als sie am Montag hier vom Rad stiegen, hatten sie stramme 2.000 Kilometer und etliche Pannen hinter sich.

Mit einer Etappenweite von 60 bis 80 Kilometern pro Tag fuhren die 13- bis 17-Jährigen mit alten sowjetischen Rädern, die bisweilen älter als ihre Besitzer sind. Übernachtet wurde auf Zeltplätzen in Polen und in Schulen in Deutschland. Am übernächsten Sonntag wollen die radelnden Weißrussen in „Muhlcheim“ sein, einem Ort, von dem keiner der Kids so genau weiß, wo das eigentlich ist. Dort angekommen, darf sich endlich im Ferienlager erholt werden.

Finanzielle Unterstützung für diese Reise, Verpflegung und Unterkunft stellt der Kreuzberger Tschernobyl-Verein, dessen Leiterin Dagmar van Emmerich 2002, während sie in der Nähe von Minsk Kinder eines Internats für Tschernobyl-Geschädigte pflegte, erfuhr, dass es im Nachbardorf einen solchen Schulradverein gibt.

„Wir waren schon in Polen, Litauen, Lettland, auch in der Moldau und Ukraine“, erzählt der Leiter der Geiner Radler, Viiktor Dubko. Immer sei es schwierig, ein Visum zu bekommen. „Es ist zu teuer für Kinder aus dem Dorf, selbst wenn sie per Fahrrad nach Westeuropa fahren.“ Dubko sagt, die Jugendlichen seien sehr begeistert, dass sie diesmal nicht nur ins Ausland reisten, sondern sogar in eine größere Stadt.

An der deutschen Grenze wurden die Teilnehmer der Anti-Tour-de-France von Vertretern der weißrussischen Botschaft begrüßt. Das Programm in der „größeren Stadt“ Berlin bestand aus Stadtrundgang, Berliner Dom und Reichstag.

Zurück gibt es glücklicherweise Bustickets. „Ich bin heilfroh, denn ich habe Angst, dass mein Fahrrad nicht mehr mitmacht. Ich habe es schon zweimal während der Reise repariert“, erzählt einer der Jungen, der seinen Namen aber nicht nennen möchte. Natürlich handele sich bei der Reise nicht um ein Radrennen, dennoch, so der junge Sommerfrischler, sei es für die Mädchen nicht immer einfach.

Andere geben sich sportlicher und machen aus dem Mangel an Shimano-Bremsen und Yamaha-Reifen eine stolze Tugend: Einige sind sogar stolz darauf, mit solch antiquarischen Gefährten durch Europa zu fahren. Wenn sie durch Städte und Dörfer fahren und die erstaunten Bewohner die Gruppe mit ihren Oldtimern sehen, stellen sich manche vor, „dass wir die Sieger der Tour de France sind“. MARIA ROGALEWA