Referendum gegen die Agenda

Die deutschen Wähler watschen die SPD bei der Europa- wie bei der Thüringenwahl ab: Sozialdemokraten erreichen einen historischen Tiefststand

AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN

Im Nachhinein klangen die Worte des CSU-Chefs gestern Abend wie eine freundliche Untertreibung. „Ich hoffe, dass wir die Wahl als eine Wahl für Europa, aber auch als einen Denkzettel für Berlin interpretieren können“, hatte Edmund Stoiber bei der Abgabe seiner Stimme erklärt – und mit „Berlin“ die Bundesregierung gemeint.

Nun ist Denkzettel ein geradezu albernes Wort dafür, dass die SPD bei der Europawahl mit nach ersten rund 23 Prozent Hochrechnungen das mieseste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl nach dem Zweiten Weltkrieg eingefahren hat. In Kombination mit den etwa 15 Prozent bei der Landtagswahl in Thüringen wäre eher von einem Vernichtungszettel zu reden. Aber hatten die Sozialdemokraten damit tatsächlich nicht gerechnet? Jedenfalls fand sich nach der Bekanntgabe der Ergebnisse um 18 Uhr zunächst kein SPD-Bundespolitiker, der sich vor die Kameras traute. Die Nachrichtenagentur dpa teilte um 18 Uhr und 13 Minuten mit: „Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Turbine Potsdam am Sonntag zum Gewinn der Deutschen Meisterschaft im Frauen-Fußball gratuliert.“

Erst um halb sieben fand sich SPD-Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter mit schweißbedeckter Stirn bereit zu verkünden, die Sozialdemokraten hätten eine „klare Niederlage hinnehmen müssen. Das Ergebnis ist bitter“ – und schwenkte deshalb gleich um zu einem engagierten Dank an die „engagierten Mitarbeiter“ im Wahlkampf, insbesondere den Europa-Spitzenkandidaten Martin Schulz.

Sowohl für Europa als auch in Thüringen haben die Wählerinnen und Wähler beschlossen, sich weder für europäische noch für thüringische Landespolitik zu interessieren, sondern stattdessen die rot-grüne Bundesregierung zu bestrafen. Die kann sich nun aussuchen, wofür: die Gesundheitsreform, die Hartz-Gesetze – der Schlingerkurs, von manchen „Chaos“ genannt, bei der Umsetzung des Reform- und Sparprogramms, das „Agenda 2010“ heißt, dürften da obenan stehen.

Auch das Thema Irakkrieg, das noch zur Bundestagswahl und kurz danach dafür sorgte, dass der Kanzler einmal so aussah, als könnte er nicht nur Recht haben, sondern auch behalten, hat rings um den G-8-Gipfel in der vergangenen Woche an Reiz und atmosphärischem Potenzial längst verloren. Nichts hat der SPD so geschadet wie die Umsetzung der im vergangenen Sommer mit der CDU ausgehandelten Gesundheitsreform. Denn dieses Jahr 2004 begann mit der Praxisgebühr, und nichts haben die Wähler der Regierung so übel genommen. Plötzlich wurden abstrakte Worte wie „Eigenbeteiligung“ und „Zuzahlungserhöhung“ am Tresen beim Arzt und in der Apotheke konkret. Und obwohl gemeinsam mit der Union verantwortet, sind diese Härten nun allein den Sozialdemokraten auf die Füße gefallen.

Nun hat die Union auf Bundesebene der erfolglosen Politik der SPD nicht unbedingt etwas entgegenzusetzen gehabt – und hat ihre knapp über 46 Prozent von 1999 auch bloß gehalten. Vielleicht fehlten auch dem Unions-Spitzenpersonal deshalb zunächst die Worte. Ein überglücklicher Europa-Spitzenkandidat Hans-Gert Pöttering durfte schwärmen, dass die deutsche Union nun „die stärkste Einzelpartei im neuen Europäischen Parlament“ würde. Doch erst eine halbe Stunde später erklärte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer, das Ergebnis sei eine „Abstrafung für die SPD und Herrn Müntefering“, womit er süffisant darauf hinwies, dass der SPD es nichts genützt hat, Parteichef Gerhard Schröder durch den Basis-Liebling Franz Müntefering ersetzt zu haben.

Den Sozialdemokraten sind die Wähler schlicht weggelaufen, und nur ein Teil von ihnen dürfte sich bei den Grünen wiedergefunden haben. Die grüne Spitzenkandidatin Rebecca Harms konnte deshalb auch bloß in zwar auf Erfreutheit gemünzten, trotzdem nach blankem Entsetzen klingenden Worten davon reden, dass die Grünen ihre über 10 Prozent bestimmt verdient hätten, denn sie hätten den Wählern ein „sehr gutes Personalangebot gemacht und sehr relevante politische Themen besetzt“. Das war zwar unbescheiden, doch vielleicht auch wahr.

Vielleicht haben die Grünen tatsächlich als Einzige einen Wahlkampf gemacht, bei dem europäische Themen auch als solche erkennbar waren – sie klebten europaweit einheitliche Plakate und machten klar, dass Umweltthemen zum Beispiel nur noch innerhalb der EU wirklich verhandelbar sind. Daniel Cohn-Bendit als Europapolitiker hat auch in Deutschland noch viele von der Idee überzeugt, dass bundesdeutsche Befindlichkeiten nicht der Politik letzter Schluss sind. Nur die Mehrheit der Bevölkerung mochte dies noch nicht bemerken – noch nicht einmal die 43 Prozent, die nur noch wählen gegangen sind.