Ray hits the road

VON JONATHAN FISCHER

Die Revolution versteckte sich hinter einem banalen Refrain: „I Got a Woman.“ Wer heute das Boogie-Piano der Ray-Charles-Nummer aus der Dauerbeschallungsschleife von Oldie-Sendern und Supermärkten hört, kann sich kaum vorstellen, welchen Aufruhr die Nummer vor einem halben Jahrhundert auslöste. Schon die Aufnahmesession führte zum Eklat: Eine religiös sensible Backgroundsängerin weigerte sich, ihren Part zu singen, und verließ das Studio.

Was hatte der blinde Sänger mit der Hornbrille verbrochen? Und warum sollten die Musikhistoriker „I Got a Woman“ später als Archetyp des Souls feiern – einen Song, der laut Jerry Wexler von Atlantic Records „die Entwicklung der amerikanischen Popmusik mehr beeinflusste als jede andere Aufnahme danach oder zuvor“?

Es beginnt in einem Tourbus auf dem Weg nach Nashville. Es ist das Jahr 1954. „Wir hörten“, erinnert sich Ray Charles’ erster Bandleader Ronald Richards, „einen Gospelsender mit einem Song von Alex Bradford. Ray fing gewohnheitsmäßig an, das Gehörte zu persiflieren. Zur Melodie aus dem Radio sang er ‚I got a Woman‘. Er fragte mich: ‚Kannst du da ein paar Zeilen zu schreiben?‘ “ Am nächsten Morgen stand der Text. Ray Charles sollte ihn wie ein wild gewordener Baptistenprediger mit heiserer Stimme stöhnen, schluchzen, schreien, wo es vorher „Jesus“ heißt, fleht der Schweinepriester nun zu seinem „Baby“. Damals ein unerhörter Tabubruch – und die Geburtsstunde des Souls.

Ray Charles allerdings sah es weniger dramatisch: „Es ist doch nur Musik“, pflegte er zu sagen, „wir können das alles mitnehmen.“ Und rearrangierte den ekstatischen Sound des Gospels, um seine Geschichten sexueller Begierde zu befeuern: Aus dem Kirchensong „This Little Light of Mine“ etwas macht er „This Little Girl of Mine“. In „What I’d Say“ offenbart er vielen Pophörern zum ersten Mal die Liturgie eines schwarzen Revival Meeting. Als Ray Charles am Ende eines Konzerts in Atlanta 1959 die Zugaben ausgingen, wies er seinen Backgroundchor die Raelettes an, einfach nachzusingen, was auch immer ihm in den Sinn käme: „Shake that thing“, „What I’d say“. Der Text gipfelte in einem improvisierten Austausch von Schreien, den „sweet sounds of love“. Lautmalerisch schraubt Ray Charles seine Stimme von einem tiefen, gutturalen Gejammer bis ins sinnlich besoffene Falsett. „Unnh, unnh“, ein einziger Schrei aus Wollust und Schmerz. Charles’ künstlerischer Triumph aber lag nicht so sehr in der Neuerfindung, sondern der Empathie, die seine Musik ausstrahlte. Schwarz. Blind. Heroinabhängig für zwei Jahrzehnte. Charles bezog seinen musikalischen Reichtum aus den tiefsten Abgründen menschlicher Geworfenheit.

1930 wird Ray Charles Robinson in Albany, Georgia, geboren. Als Fünfjähiger sieht er seinen Bruder ertrinken, kurz darauf erblindet er und verliert mit 15 auch noch die Mutter. „Ich bin barfuß und ohne fließendes Wasser aufgewachsen, unter uns war nichts als der Boden. Aber wir haben keinen Gottesdienst, kein Revival Meeting ausgelassen.“ Und egal, wie sehr dem Jungen am Anfang seiner Karriere auch die coole Eleganz eines Nat King Cole imponierte, die Kirche in ihm, diese Ritualisierung von Wahnsinnzuständen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, drängt mit Macht aus ihm. Für ein paar Dollar und ein warmes Essen nimmt der Teenager jeden Gig, jeden Barjob an. In der St.-Augustine-Blindenschule in Greenville, Florida, lernte er, Musik in Braille zu lesen und zu schreiben, für Big Bands zu arrangieren und Piano, Orgel, Klarinette und Trompete spielen.

Wenn Ray Charles von seiner Umgebung später als distanziert oder abweisend eingeschätzt werden sollte, rechtfertigte er das gegenüber seinem Biografen David Ritz mit einer Kindheit, „in der die anderen, sehenden Kinder eine Menge Spiele spielten, bei denen ich nich mitmachen konnte“. In den Vierzigern lernt Ray Charles als Mitglied einer weißen Hillbilly-Band jodeln und tingelt durch Florida. Später sollten seine Ausflüge in die Sentimentalitäten des Country & Western einige der kommerziell erfolgreichsten Platten seiner Karriere zeitigen. „In meinen Songs steckte schon immer mehr Verzweiflung, als man gemeinhin mit Rock ’n’ Roll assoziiert. Weil ich die Leute nicht tanzen sehen konnte, schrieb ich keine Jitterbugs oder Twists, ich spielte nur Rhythmen, die mich selbst bewegten, etwas, zu dem ich aus vollem Herzen singen konnte.“

Charles, der 1951 bei Atlantic unterschreibt, 1959 zu ABC wechselt und schließlich die eigenen Plattenfirmen Tangerine und Crossover ins Leben ruft, zeichnete sich zeitlebens durch seine Offenheit für alle nur möglichen Sounds aus. Ob Bebop-Solos, Latin-Rhythmen, Funkriffs oder Folk-Standards – alles nur Musik! Selbst durch den streichergezuckerten Bluessirup, der seine letzten Alben verklebte, schimmerte bei ihm immer noch der „Genius of Soul“. „Wenn es funktioniert“, so Ray, „nennen sie dich ein Genie; wenn nicht, hast du es versaut.“ Bei ihm funktionierte es.

Am Donnerstag starb Ray Charles 73-jährig in Kalifornien. Möge er im Soul-Himmel mit seinen Jüngern Sam Cooke, Otis Redding, und Mavin Gaye im Chor singen. Seine Songs aber behalten wir bei uns.