Gedränge im Talentschuppen

Wie die Fliegen stürzen sich derzeit Sender und Unterhaltungsindustrie auf Talentwettbewerbe. „Star Search“, „DSDS“ oder „Popstars“ sind erst der Anfang einer unheilvollen Entwicklung – hin zu finanziellem Gewinn und kreativer Verarmung

von CLEMENS NIEDENTHAL

Vielleicht sollte man die Geschichte einmal andersherum erzählen. Sollte ein emanzipatorisches Potenzial rühmen, welches den telemedialen Talentwettbewerben eingeschrieben sei. Sollte an Joseph Beuys erinnern, für den jeder Mensch ohnehin und a priori Künstler war. Sollte sich mit dem gerade einmal 12-jährigen Daniel freuen, der das eigentlich ziemlich doofe „What’s Up“ von den eigentlich ziemlich doofen 4 Non Blondes so ganz und gar uneigentlich schön in die TV-Haushalte hineingesungen hatte. Am vergangenen Samstag war das. In der Pilotfolge von „Star Search“, dem bislang ambitioniertesten, will heißen werbeaufwendigsten Follow-up-Format nach „Deutschland sucht den Superstar“. In den kommenden Wochen sucht die Sat.1-Show nicht nur gleich zwei Popstars auf einmal. Sie fahndet zudem nach einem Nachwuchsmodel und einen Comedian.

Wie gesagt, man sollte vielleicht. Aber dann steht auf einmal die 19-jährige Irina auf der „Star Search“-Bühne und erzählt, dass sie „gerne mal für H & M laufen“ würde. Moderator Kai Pflaume hatte die Abiturientin mit den Laufstegambitionen gerade gefragt, mit welchem Topdesigner sie am liebsten arbeiten wolle. Und eine Antwort erhalten, die unerwartet unglamourös ausfallen sollte. Eine Antwort, wie sie eine junge Frau formuliert, die (noch) nicht in Prada-Pantoletten durch ihren Alltag stelzt. Die noch bei New Yorker einkauft und nicht in New York. So überhaupt nicht „Glamour pur“ war das, um eines der Totschlagwörter aus dem „Superstar“-Vokabular der vergangenen Saison zu bemühen.

Es war, im Gegenteil, genauso durch-, nein besser querschnittlich wie jene Viertelmillion junger Menschen, die in diesem Jahr bereits an einem der vielen TV-Castings teilgenommen haben. Für „Popstars“ von RTL 2. Für „Star Search“ von Sat.1. Oder für die „Deutsche Stimme 2003“, die zu finden sich das weniger anglophile ZDF vorgenommen hat. Auch für die zweite Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ wurde bereits zum Vorsingen geladen. Ab Herbst dann werden Dieter Bohlen, Thomas M. Stein und ein Millionenpublikum – so viel scheint mindestens dieses eine Mal noch sicher – ihren neuen Alexander und ihren neuen Daniel Küblböck finden.

Denn die Talentshow ist das Fernsehquiz für das Jahr 2003. Sie ist Quoten- und kollektive Mythenmaschine zugleich. Zwar haben nur gerade so akzeptable 2,3 Millionen „Star Searcher“ den Auftakt der Sat.1-Show am vergangenen Samstag verfolgt. Doch auch hier wird die Quote steigen, wenn die Sanges-, Model- und Comedytalente erst einmal durch den Boulevard-Kakao gezogen werden. Und wenn Juror Hugo Egon Balder wenigstens hin und wieder den Bohlen gibt und eben das macht, wovor Peter Maffay bei Sandra Maischberger schon einmal prophylaktisch warnt: „Eine Kritik, die sehr hart ist, kann sehr verletzend sein.“

Wie bewerte ich Talent?

Nun kann man den telemedialen Talentshows vieles vorwerfen. Am wenigsten aber, dass sie machen, wofür sie dem Namen nach geschaffen sind: Talent bewerten nämlich. Ähnlich deplatziert ist nur mehr der Vorwurf, dass es ein Bob Dylan – je nach persönlichem Gusto kann hier auch Kurt Kobain oder Nina Hagen eingesetzt werden – niemals zum publikumsgekrönten Superstar gebracht hätte.

Zwar mag auch dem so sein. Aber schließlich suchen die einschlägigen Formate keinen genialen Ich-Erzähler, keine authentizitätsstiftende Leit- und Leidfigur für Wenige oder Viele. Sie suchen nach „dem Allroundsänger für Musical-Produktionen und Top-40-Nachspielbands“, wie es Götz Alsmann mit Blick auf die beiden „Superstar“-Finalisten Juliette und Alexander vortrefflich umschreibt. Alsmann muss es wissen. Schließlich moderierte er einmal die „Gong-Show“, in der die weniger talentierten Kandidaten einfach weggegongt wurden. So darwinistisch konnte der TV-Alltag also auch schon in vergangenen Dekaden sein.

Urahn Peter Frankenfeld

Wollte man eine Mediengeschichte der Talentwettbewerbe schreiben, so müsste man noch früher, wahrscheinlich mit Peter Frankenfelds „Toi, Toi, Toi“ aus den ganz jungen Sechzigerjahren, anfangen. Die Idee ist also nicht neu. Nur waren die Popkulturindustrien wohl noch niemals so bereit wie in diesen Tagen. Die Bertelsmann-Music-Group (BMG) lässt sich gerade von Alexander, Daniel und Co. sanieren. Während derzeit alle Plattenfirmen jammern, verkaufte BMG locker 4,5 Millionen Tonträger von „Superstar“ – und konnte damit seinen Marktanteil in Deutschland auf über 25 Prozent steigern. Konkurrent Universal erhofft sich den gleichen Effekt von der „Star Search“-Verwertungskette.

Auf „gerade einmal 3 bis 4 Prozent“ schätzt BMG-Boss und „Superstar“-Juror Thomas M. Stein den künftigen Anteil der „Superstar“-, „Star Search“- und „Popstars“-Produkte am Gesamtvolumen der abgesetzten Tonträger. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich Stein zu seinen Ungunsten verrechnet hat. Und dass es kaum die Grönemeyers und Nenas sein werden, auf deren Rücken diese Neuordnung des Musikmarktes ausgetragen wird. Künftig wird es eng werden in den musikalischen Nischen jenseits von MTV-Rotation und Radiopop – enger noch als bei einem Casting für „Deutschland sucht den Superstar“.