Einfach noch nicht domestiziert

Kein Wort über glückliche Kinderaugen: Der Hamburger Dom schwitzt und riecht und ist das letzte echte Volksvergnügen dieser Stadt. Die wahren Attraktionen sind nicht „Take Off“ und „Break Dancer“, sondern die, die es immer waren: die Wurfbude und das Pferderennen mit den Wackelköpfen

von PETER AHRENS

Lärmende Gassen, betrunkene Massen, wie der Dichter sagt. Er hätte es auch kürzer ausdrücken können: Hamburger Dom. In dem Gedicht hätten dann noch Pommesgeruch, Zuckerwattensüßlichkeit, größter Abschleppbetrieb des Nordens oder Astra-Bierfahne eine Rolle gespielt. Der Dom duftet nicht, er stinkt. Er ist nicht fein und vornehm, nein, er schwitzt und rülpst, als wäre er eine Figur im Kopf des italienischen Tourismusstaatssekretärs. Und genau deswegen gehört der Dom nach St. Pauli. Und genau deswegen werde ich auch diesmal wieder hingehen, wenn der Sommerdom in zwei Wochen seine Pforten öffnet.

Nah an der Ohnmacht

Nicht wegen der Bonmarken, die vor Beginn der Festivität an die Presse ausgegeben wird: Sie erhalten einen Obstler zum halben Preis im „Schwarzwaldmädel“. Freikarte für den „Horror-Trip“ für eine Person. Die Bonmarken-Orgie ist fester Bestandteil der Pressekonferenz wenige Tage bevor der Dom dreimal jährlich eröffnet wird. Hunderte von JournalistInnen quetschen sich auf die Holzbänkchen, die Musi spielt, es ist heiß und eng, die Luft ist Sauerkraut-gesättigt – wer olfaktorisch noch nicht völlig abgestumpft ist, muss der Ohnmacht nahe sein.

Und auch nicht wegen des anschließenden vierwöchigen Dauerfeuers in den Hamburger Standortmedien. Berichte, in denen es vier Wochen lang schwiemelt von „glücklichen Kinderaugen“ und rührenden Geschichten über 96-jährige Schausteller, die seit 75 Jahren ihr Riesenrad überall in der Republik aufbauen und ihr 60-jähriges Dom-Jubiläum feiern. NDR 90,3 verlost drei mal zwei Freikarten, wenn Sie uns sagen können, wie die ersten Zugmaschinen im Schaustellergewerbe hießen. Lanz Bulldog oder Mercedes Benz. Und donnerstags ist HEW-Card-Tag.

All das muss man vergessen und stattdessen einfach hingehen. Und zwar unbedingt abends, wenn es langsam dunkel und ein bisschen kühler wird. Der Dom ist wie die Reeperbahn nebenan. Wenn die Lichter angehen, blüht er erst auf. Dann wird es eng, voll, auch ein bisschen derb, so wie es bei einer Kirmes sein muss. Ein Kino darf leer sein, um genießen zu können, aber ein Rummelplatz nicht, sonst hieße er ja auch nicht so.

Die größten Trauben bilden sich natürlich immer da, wo die Buden, Geschäfte und Stände Namen tragen wie „Break Dancer“, „Take Off“ oder „Olympia-Looping“. Bei meinem ersten Dom-Besuch überredete mich eine Freundin, mit ihr gemeinsam in so ein Ding zu gehen, das sich „Salto Mortale“ nannte und bei dem man in einer Kabine sitzend in rasender Geschwindigkeit auf den Kopf und wieder zurückgeschleudert wurde, während sich die Kabine im selben Tempo um die eigene Achse drehte und man gleichzeitig zehn Meter in die Höhe und in der nächsten Sekunde wieder herunter gejagt wurde. Die Freundin erzählte mir anschließend, ich hätte die ganze Zeit „ich will nicht sterben“ geschrien. Das Abendessen, zu dem wir uns eigentlich anschließend verabredet hatten, wurde ersatzlos gestrichen. Man muss nicht Rüdiger Nehberg heißen und sich auf einen Eukalyptusbaum im Urwald abseilen, um das Überleben in schwieriger Lage zu trainieren. Seitdem habe ich es mir im Autoscooter oder im Kettenkarussell angewöhnt, einfach laut zu singen, wenn mir schlecht zu werden droht. Es hört ohnehin niemand zu, und der Trick funktioniert.

In der Menschenwoge

Die wahren Attraktionen nach dem Grundsatz der Entschleunigung aber heißen sowieso Wurfbude, Wahrsagerin und Hau-den-Lukas. Und mein persönlicher Liebling, das Pferderennen, bei dem man kleine Bälle in kleine Löcher bugsieren muss, damit sich die Jockey-und-Pferdattrappen kopfwackelnd ein Stück vorwärts bewegen. Ein Spiel, das auf Märkten offenbar nie ausstirbt.

Wer nicht aufpasst, kann auf dem Dom furchtbar viel Geld lassen. Man kann sich aber auch einfach mal abends eine halbe Stunde von der Menschenwoge tragen und schieben und es beim Beobachten der Leute bewenden lassen, ohne einen Cent auszugeben. Der Dom ist Volksvergnügen. Viele davon gibt es nicht mehr.

Eröffnung des Sommerdoms am 25. Juli. Er dauert bis zum 24. August.