Der neue Bürger

Hans-Christian Ströbele verkörpert, was die konservativen Verfechter eines neuen Bürgertums vermissen lassen

Vor 35 Jahren gründete er eine Kanzlei mit Namen „Sozialistisches Anwaltskollektiv“, vor 30 Jahren flog er aus der SPD, weil er RAF-Mandanten „Genossen“ genannt hatte, vor 25 Jahren gründete er die taz mit, vor 19 Jahren zog er zum ersten Mal in den Bundestag ein. Heute, da er 65 Jahre alt wird, steht Hans-Christian Ströbele für eine Renaissance der Sekundärtugenden.

In dem Milieu, aus dem Ströbele kommt, gilt eine solche Feststellung zunächst als Witz, eigentlich als Beleidigung. Sekundärtugenden haben bei der Linken keinen guten Klang. Wer pünktlich bei Verabredungen ist, ordentlich in der Kleidung und folgsam gegenüber Autoritäten, der kann auch ein KZ leiten. Seit ein noch ziemlich junger Oskar Lafontaine den schon ziemlich alten Kanzler Helmut Schmidt derart schmähte, ist ein linkes Grundmisstrauen auf den Punkt gebracht: Ästhetisch spießig, moralisch korrupt und politisch fragwürdig seien die Anhänger bürgerlicher Umgangsformen. Und in der Tat, optisch könnte der Kontrast größer kaum sein zwischen dem akkuraten Silberscheitel des Weltstaatsmanns Schmidt und dem notorisch wuschelköpfigen, wollpullibehangenen, fahradkurvenden Kreuzberger Ströbele.

Doch als Politiker führt der 65-Jährige vor Augen, dass es auch positive Sekundärtugenden gibt. Ströbele ist bar jenes Zynismus, der Parteikarrieren dienlich ist und am Ende doch nur Guido Westerwelles hervorbringt. Man kann von Ströbele beeindruckt sein, ohne seine Positionen zu teilen. Altmodisch ausgedrückt: Ihn kennzeichnen Redlichkeit und Anstand.

Seit einer Weile sind bürgerliche Medien von der Welt bis zum Edel-Magazin Cicero auf der Suche nach Heroen eines neuen Bürgertums. Wahrscheinlich gucken sie in die falsche Richtung. Je länger Ströbeles politischer Weg währt, umso auffälliger sind darin die Konstanten bürgerlicher Tugenden.

Er ist von den Medien schwer zu korrumpieren, weil er seine Eitelkeit besser im Zaum hat als viele Kollegen. Er ist von der Macht kaum zu verführen, weil er seit Jahrzehnten ein Auskommen als Einzelkämpfer hat. Er ist von der linken Erbkrankheit des Sektierertums verschont geblieben, weil ihn schon als Juristen die Wirklichkeit mehr interessierte als das Dogma. Und er verfügt über einen unglaublichen Antrieb, der sich speist aus einer Art produktiver Naivität.

Weil er die Welt nicht einfach nehmen will, wie sie ist, wirkt er mal wie ein Traumtänzer, mal wie ein Revoluzzer. Im entscheidenden Moment aber, von Satzungsstreitigkeiten bei den Grünen bis zu Fragen von Krieg und Frieden, war er immer Realist – und heimlicher Retter seiner Partei. Auf Fotos erkennt man politische Durchbrüche der Grünen ganz leicht: Ströbele und Joschka Fischer, das Gewissen und die Machtmaschine der Grünen, stecken die Köpfe zusammen. So war es nicht nur Selbstironie, als Ströbele einmal sagte: „Mein ganzes politisches Leben ist ein einziger Kompromiss.“

PATRIK SCHWARZ