Reiche Städter, arme Bauern

Der 104. Platz lässt leicht vergessen, dass China noch immer ein Entwicklungsland ist

PEKING taz ■ Leute wie Edward Tian von China Netcom, der im Telekom- und Immobiliengeschäft Millionen verdient, gehören heute zu den Lieblingsunternehmern der kommunistischen Regierung. Die Regierung selbst hat sich zur obersten Managerin des neuen Kapitalismus chinesischer Prägung gewandelt. Unternehmer wie Tian sind Nutznießer der Wirtschaftsreformen, die dem Land seit Anfang der Achtzigerjahre ein Wachstum von jährlich zehn Prozent beschert hat. Offiziell wurde China im letzten Jahr mit 52 Milliarden Dollar zum weltweit größten Empfänger ausländischer Investitionen – noch vor den USA.

Zu den wichtigsten Gründen für diesen Erfolg zählen Experten nicht nur die politische Stabilität, sondern auch eine schrittweise Privatisierungspolitik, die starke Abschottung des Finanzsektors nach außen, den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO und die Bereitschaft der Regierung, die Banken zu stützen und riesige Infrastrukturprojekte aus dem Haushalt zu bezahlen, um das Land zu erschließen. So scheinen Chinas Metropolen Schanghai und Peking inzwischen moderner als viele europäische Hauptstädte – und lassen gern vergessen, dass China ein Entwicklungsland ist, in dem es immer noch tausende Dörfer ohne Elektrizität gibt und Millionen Chinesen in bitterster Armut leben.

Nach Statistiken der Regierung ist die Zahl der Ärmsten der Armen unter den 1,3 Milliarden Einwohnern inzwischen auf den niedrigsten Stand der Geschichte gefallen: Von 250 Millionen im Jahr 1978 auf 30 Millionen 2002. Zu diesen Ärmsten gehören nach dem Verständnis der Regierung alle, die weniger als 627 Yuan im Jahr verdienen – 75 US-Dollar.

So riesig sind die Dimensionen des Landes, so enorm ist die Zahl seiner Bewohner, dass man leicht übersieht, wie unterschiedlich die Situation in verschiedenen Teilen Chinas inzwischen ist. Der Zwang zur schnellen Industrialisierung und Verstädterung, notwendig, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, führt dazu, dass die Umwelt immer schneller zerstört wird. Der Druck wird wachsen: Bis 2025 werden voraussichtlich 250 Millionen Chinesen dazu kommen. Das sind fast so viele wie die gesamte Bevölkerung der USA.

Gewaltsame Proteste und soziale Unruhen sind längst an der Tagesordnung, dürfen jedoch in den Medien meist nicht gemeldet werden, um ausländische Investoren nicht zu verschrecken.

Pekings Politiker gestehen inzwischen längst ein, dass die Kluft zwischen Arm und Reich, Städtern und Bauern, Männern und Frauen, Küstenprovinzen und Inlandsregionen dramatisch wächst. Nach internationalen Standards (dem so genannten Gini-Koeffizienten) zählt China zu jenen Staaten, in denen die Ungleichheit alarmierende Dimensionen angenommen hat. Fachleute wie die UNDP-Chefin in Peking, Kerstin Leitner, warnen vor einer „sozialen Explosion“. JUTTA LIETSCH