„Al-Qaida ist eine lernfähige Organisation“, sagt Herfried Münkler

Der Terroraktion in Saudi-Arabien zeigt: Al-Qaida operiert rational und präzise kalkuliert

taz: Herr Münkler, eine offenbar mit al-Qaida verbundene Gruppe hat in Saudi-Arabien Geiseln genommen und ermordet. Ist diese Form – Geiselnahme – für al-Qaida neu?

Herfried Münkler: Ich glaube, ja. Bislang hat al-Qaida sich auf Anschläge konzentriert. Dass sie eine Aktion wählt, bei der es Verhandlungsspielräume gibt, ist neu. Es kann aber auch sein, dass der Plan von Beginn an auf die Tötung zielte. Dann wäre es also nie um Verhandlungen gegangen, sondern nur um die exemplarische Liquidierung westlicher Staatsbürger und darum, wie bei den Attentaten auch, terreur, den berühmten Schrecken, zu verbreiten.

Die Tat in Saudi-Arabien scheint drei Ziele haben: die Vertreibung von Ausländern aus Saudi-Arabien, eine Schwächung der saudischen Ökonomie und eine Erhöhung des globalen Ölpreises. Damit dürfte die nach dem Terroranschlag von Madrid diskutierte Frage, ob und wie rational al-Qaida handelt, beantwortet sein.

Ja. Ich bin seit dem 11. 9. 2001 der Meinung, dass der Versuch, al-Qaida mit religiösem Fundamentalismus zu erklären, zu kurz greift. Der Fundamentalismus ist ein Betriebsstoff der Organisation – doch ebenso kennzeichnend sind die nüchterne Zielauswahl und die rationalen Ziele. Die Organisation hat flache Hierarchien – das berühmte Netzwerk – und ein recht geringes ideologisches Profil. Dies beides ermöglicht schnelle Lernfähigkeit.

Welchen Lernprozess spiegelt die Tat in al-Chobar?

Al-Qaida operiert nach Trial-and-Error-Verfahren und schaut, was wirkt. Angriffe auf den militärischen Apparat, etwa auf die USS Cole in Aden und die Angriffe auf das US-Militär im Irak, sind weniger effektiv. Wirksamer sind Aktionen, die auf die hochgradig verletzliche wirtschaftliche Struktur des Westens und die Psychologie westlicher Wirtschaftsakteure zielen.

Die US-Firmen werden ihre Angestellten aus Saudi-Arabien abziehen …

Das ist der beabsichtigte Effekt. So haben westliche Firmen auch schon vorher reagiert. Al-Qaida greift somit an zwei Fronten an. Die eine ist die Psychologie des Westens – der Versuch, Angst zu verbreiten und wahnhafte Bedrohungsgefühle zu erzeugen. Die zweite Front kann man im Irak beobachten: Dort ist es der Versuch, mit Anschlägen auf Ölpipelines die Selbstfinanzierung des Wiederaufbaus im Irak zu verhindern. Etwas Ähnliches scheint al-Qaida nun auch in Saudi-Arabien anzustreben – durch Attacken auf westliche Techniker, also das Know-how.

Kann man den Anschlag in Saudi-Arabien als Strategiewechsel von al-Qaida deuten – oder greift das zu weit?

Das greift zu weit. Es gibt eine Verschiebung von eher symbolischen Zielen – etwa der Synagoge in Istanbul – zu Zielen, die eine größere ökonomische Auswirkung haben. Aber das ist kein Wechsel im Sinne einer Alternative, sondern ein Lernprozess, in dem neue Angriffsoptionen hinzukommen.

Was bedeutet der Anschlag für unsere Haltung zum islamistischen Terrorismus? Müssen wir etwas ändern?

Dies ist noch ein Zeichen, dass al-Qaida höchst aktionsfähig ist – auch wenn eine Tat von der Dimension des 11. 9. ihre derzeitigen Fähigkeiten übersteigen dürfte. Darüber hinaus sollten wir uns – neben dem Einsatz polizeilicher, geheimdienstlicher und gegebenenfalls militärischer Mittel – eine Art heroische Gelassenheit antrainieren – also eine erhöhte psychische Resistenz gegen terroristische Anschläge.

Wir sollen uns an Terroranschläge gewöhnen?

Ja, im Sinne einer mürrischen Indifferenz. Gerade Anschläge auf so genannte weiche Ziele lassen sich nur begrenzt verhindern – deshalb müssen wir sie aushalten. Nur so vermeiden wir, dass diese Taten den beabsichtigten Effekt erreichen: die Verbreitung von Schrecken. Langfristig verlieren solche Taten dann für den Aggressor an Wert. Diese Haltung ist zudem nötig, damit populistische Politiker im Westen davon nicht profitieren können und sich unsere Gesellschaft nicht unter der Hand in etwas verwandelt, das wir nicht wollen. Ich weiß, dass diese Gelassenheit schwer umzusetzen ist – aber wir haben uns auch daran gewöhnt, dass der Straßenverkehr jedes Jahr tausende von Opfern kostet. INTERVIEW: STEFAN REINECKE