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: Deutsche Geschichte im Schweinsgalopp: Jenny Glanfields „Viktorias Erbe“, der dritte Teil einer in Berlin spielenden Familiensaga

Starke Frauen und andere Fettaugen auf der Suppe der Vergangenheit

Bücher zu schreiben ist eigentlich ganz leicht. Man nehme einen verzwackten historischen Rahmen wie die deutsche Geschichte, vermenge ihn mit der gründlich recherchierten jüngsten Vergangenheit und setze obendrauf eine starke Frau, die trotz aller Schicksalsschläge immer wieder wie ein Fettauge auf der Suppe schwimmt. „Viktorias Erbe“ heißt die dicke Schwarte, die das alles vereint – als letzter Band einer dreiteiligen Berliner Familiensaga über das fiktive Hotel Quadriga, das an das Hotel Adlon erinnern soll.

Die drei Bände „Hotel Quadriga“, „Viktoria“ und „Viktorias Erbe“ stellen den selbstbewussten Versuch der angloamerikanischen Autorin Jenny Glanfield dar, deutsche Geschichte von der Kaiserzeit bis zur Wende im Schweinsgalopp und im handlichen Taschenbuch-Format an den Mann/die Frau zu bringen. Aber: So uninteressant schmonzettenhaft, wie sich das anhört, ist das alles gar nicht. Hat man sich einmal damit abgefunden, dass es bei der Menge des Stoffs unmöglich auch noch auf literarische Qualität ankommen kann, liest sich „Viktorias Erbe“ auf jeden Fall angenehmer weg als jedes dröge Geschichtsbuch – und kann daher ähnlich funktionieren wie „Ben Hur“ und andere Sandalenfilme, die ganzen Generationen von Abiturienten das Büffeln römischer Geschichte erspart haben sollen.

„Viktorias Erbe“ setzt in der Trümmerwüste Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Wir sehen die erschöpfte und gealterte Viktoria, die ihr Hotel und ihren Mann verloren hat. Aber bald eröffnet sie am Ku’damm ein Café und trifft dort endlich wieder auf ihren lang vermissten Sohn Stefan und auf Mortimer, eine alte Liebe. Aber für großartige Gespräche, Emotionen und ähnlichen Schnickschnack ist hier kein Platz, der Kalte Krieg, die Blockade Berlins, untergetauchte Nazis, der 17. Juni, Stasiverwicklungen und schließlich der Bau der Mauer warten darauf, abgehakt zu werden. Es ist erstaunlich, wie das alles in eine bzw. in zwei miteinander verbandelte Familie hineinpasst, aber Jenny Glanfield hat es geschafft. Wie in einer Soap müssen alle Familienmitglieder gleich mehrere exemplarische deutsche Schicksalsschläge hinnehmen. Viktorias Sohn Stefan war wegen Hitler im Exil und geriet in englische Internierungshaft, nach dem Krieg wird er Berlin-Korrespondent bei einem bekannten linksliberalen Hamburger Magazin, deckt die Nazi-Verwicklungen seiner großindustriellen Ruhrpott-Verwandtschaft auf und verliebt sich in eine Ostdeutsche, die von der Stasi erpresst wird, auf Betreiben eines kommunistischen Cousins aus Moskau von Agenten aus West-Berlin entführt und nach acht Jahren Haft auf der Glienicker Brücke ausgetauscht wird. Stefans Schwester lebt derweil in der sowjetischen Zone und flieht in letzter Minute vor dem Mauerbau mit der Familie. Bei Viktorias Enkeln aber gärt es wegen der ganzen unaufgearbeiteten Vergangenheit ziemlich, weshalb sie in die Kommune 1 ziehen, mit Baader und Ensslin Bomben werfen, schließlich einen Anschlag auf einen großindustriellen Onkel verüben, in die DDR abtauchen und nach der Wende verhaftet werden. Uff.

Noch interessanter an „Viktorias Erbe“ als diese abenteuerliche Zusammenführung sämtlicher Ereignisse in einer Hand voll Protagonisten, interessanter auch als die akribischen Beschreibungen von Ereignissen wie dem Mauerbau und den Studentenunruhen, ist die Entdeckung Jenny Glanfields, dass es sich bei Geschichte um nichts als die ewige Wiederkehr des immer Gleichen handelt. Etwa, dass in den Fünzigerjahren die Westdeutschen für Berlin zwei Pfennig Zusatzporto auf jeden Brief zahlen mussten. Überraschend, wie aktuell da Sätze wie dieser klingen: „Die Menschen im Westen halten Berlin für ein Fass ohne Boden und ärgern sich über die Zuschüsse, die sie an uns zahlen müssen“. SANDRA LÖHR

Jenny Glanfield: „Viktorias Erbe – Die Geschichte einer Berliner Familiendynastie“, Rowohlt, Reinbek 2002, 589 S., 9,90 €