Wiederkehr des Ganzkörperleders

Peinliche Klamotten, grelle Booklets: Bands aus Japan verstehen ihre Erneuerung des Rock‘n Roll sehr eigen. Einige von ihnen kommen jetzt nach Hamburg. Eine gute Gelegenheit, Erklärungen zu finden. Oder das Staunen neu zu lernen. Zum Beispiel heute Abend im Molotow

Ein edles Etablissement in Tokio, die Wände sind aus dunklem Holz mit Intarsien. Papierwände spannen Räume ab, an den Tischen wird diniert, vorne steht eine Bühne, auf der drei Frauen in kurzen Kleidern musizieren. Sie spielen eine hibbelige Mischung aus Charleston und Punkrock, singen dabei in hoher Tonlage „Woo Hoo, hoohoohoo!“ Noch tanzen dazu ein paar Gäste, doch schon bald werden Arme und Köpfe herumliegen und der Raum blutüberströmt sein.

Die Band, die Quentin Tarantino in dieser Szene seiner Martial-Arts-Hommage Kill Bill Vol.1 aufspielen lässt, sind The 5.6.7.8‘s, drei Frauen aus Japan, die für westliche Ohren recht krude Lieder spielen. Dabei nutzen sie den Sound von Girlgroups aus den 60ern für ihren zügigen Garagenrock mit sirenenhaftem Gesang. Sie kleiden sich in alberne Tina-Turner-Kleider oder auch in Ganzkörperleder, nennen ihre Lieder „Pretty Little Lily Can Dance No More“, „Bomb The Twist“ oder „Teenage Mojo Workout“. Im Internet kursieren legendenhafte Berichte über ihre Konzerte in den 90ern.

Gleich vier derartige japanische Bands beehren in diesen Wochen Hamburg und spielen ihre Variante des weltumspannenden Bedürfnisses, den wilden Rock‘n‘Roll der 60er Jahre selbst nacherleben zu dürfen. Was in westlichen Gefilden erfolgreich Bands wie The Hives, The Vines, The Datsuns besorgen – also junge Menschen, die ihre Gitarren nach alter Rockschule bearbeiten und dazu dreckige Jeans tragen – findet jetzt auch in Japan statt, und doch ist es nicht dasselbe. Ähnlich wie Bill Murray, der sich in dem Film Lost In Translation mit stoischem Erstaunen durch ein fremdartiges Tokio treiben lässt, geht es einem auch bei diesen Bands. Ein Blick auf ihre Homepages zeigt knallbunte, schräge Szenarien aus wilder Comicart und einem Rock‘n‘Roll-Verständnis, bei dem nicht ganz klar wird, ob es ironisch gemeint ist oder bitterernst.

Bereits kürzlich bot sich die Gelegenheit, die japanische Auffassung von Rock‘n‘Roll aus nächster Nähe kennen zu lernen. Die famosen Electric Eel Shock spielten im Grünspan und in der Scandia Bar, ein Dreiergespann mit nacktem Schlagzeuger und Wirbelwinden an den Gitarren. Sie verkünden „Double Peace!“, spreizen die Finger dabei wie zum altbewährten Peace-Zeichen, aber eben mit vier statt mit zwei Fingern. Heute treten The 5.6.7.8‘s im Molotow gemeinsam mit Guitar Wolf an. Das sind drei Jungs aus Tokio, die ihre Musik als „midnight violence Rock‘n‘Roll“ und sich als die Allergrößten beschreiben. Sie spielen ebenfalls eine Art Punk-a-billy und tragen Motorradleder. Ein Album heißt Kung Fu Ramone, im Zombie-B-Movie Wild Zero traten sie als Schauspieler auf.

Genau zwei Wochen später spielen ebenfalls im Molotow die Rocker Balzac. Die Bengel aus Osaka präsentieren sich in schwarzen Kostümen mit Skelett-Aufdruck und haben eine trashige DVD zu ihrer US-Tour veröffentlicht, auf deren Titelbild ein „atomic-age vampire“ seinem Grab entsteigt. Vor „terrifying tales of brutality“ wird eindringlich gewarnt.

Die Hamburger Konzerte lassen sich als ein Kompaktseminar zur ostasiatischen Rockerseele begreifen. Ein Pflichtprogramm für jeden, der einerseits zu spät geboren ist, um bereits mit Keith Richards Fernseher aus Hotelzimmern geworfen zu haben, aber andererseits die charmante Gelegenheit nutzen möchte, sich einmal so angenehm „lost“ zu fühlen wie Bill Murray im Neonlicht Tokios. Und wenn es nur für ein paar Stunden im dunklen Keller des Molotow ist.

Volker Peschel

Heute: „The 5.6.7.8‘s“ und „Guitar Wolf“, 20 Uhr; Dienstag, 15. Juni: „Balzac“, 21 Uhr, beide im Molotow