Spurlos: Eine Familie geht unter

AUS JIMANÍ HANS-ULRICH DILLMANN

„Die Schönheit ist Teil der göttlichen Sprache, mit der Gott zu uns spricht.“ Ein Spruch auf einem Billigdruck, der ein blondes Kleinkind zeigt. Der Nagel, der den Bilderrahmen an der Wand der Elendshütte in Jimaní, der Kleinstadt an der dominikanisch-haitianischen Grenze, hielt, ist aus der Wand gefallen. Das Bild steckt im knöcheltiefen Schlamm. Bräunlicher Morast ist auf dem Boden mit Geschirr und Kleiderfetzen verschmolzen. Die Menschen, die hier bis vor vier Tagen lebten, sind verschwunden, fortgerissen von den Schlammmassen, die sich in der Nacht zum Montag durch die Hütte wälzten. Die Sperrholztür hat der Naturgewalt nicht trotzen können.

Eine Familie ist verschwunden in den Fluten bei einer der größten Katastrophen, die die Dominikanische Republik und Haiti, die sich die Karibikinsel Hispaniola teilen, in den letzten Jahrzehnten getroffen haben.

Spuren der 22 Jahre alten hochschwangeren Frau, ihres 25-jährigen Lebensgefährten und der beiden Kinder haben die Nachbarn in den Geröllmassen nicht mehr gefunden. „Irgendwo dort“, sagt ein Mann mit apathischem Blick, „müssen sie sein.“ Er zeigt auf eine weißgraue Geröllwüste, die sich über Kilometer erstreckt. Äste ragen aus dem Flussbett des Río Blanco, des Weißen Flusses, wie er wegen seiner weißen Steine genannt wird. Trotzig hat ein Flammenbaum den Schlamm- und Wassergewalten widerstanden. Die kleine Terrasse eines Holzhauses ist unterspült, das Dach eingeknickt, Fenster und Wände sind geborsten. Aber das ehemalige Wohnhaus ist als eines der wenigen erhalten geblieben – wie auf einer wasserumtosten Hallig, die der Sturm verschmäht hat.

Der Stadtteil La Cuarenta, der sich bis Sonntag noch eng an das Ufer des Río Blanco schmiegte, existiert nicht mehr. Kinder irren umher, auf der Suche nach ihren Eltern oder Angehörigen. Über der Gegend liegt der süßliche Geruch nach Leichen und Aas. Allein hier hat die Schlammflut aus den abgeholzten Bergen der Umgebung 200 Menschen in den Tod gerissen. „Wir haben wirklich nicht damit gerechnet, dass das passiert“, sagt Titó Javier, der Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde, der sich in letzter Sekunde retten konnte. Sein kleines Bethaus wurde weggeschwemmt, ebenso sein Wohnhaus. „Ich habe alles verloren. Aber wenigstens meine Familie, meine Frau und meine fünf Kinder, sind mir geblieben. Gott hat es so gewollt“, sagt der 32-Jährige. Javier läuft durch das zerstörte La Cuarenta und notiert die Namen derjenigen, die überlebt haben.

Mit dem evangelischen Laienprediger haben noch andere Unterschlupf in einer kleinen Kirche gefunden. 16 Frauen, die mit leerem Blick auf herumwuselnde Kinder starren. Eine Frau stillt ihr Kind, eine andere probiert grellbunte, paillettenbestickte Stoffschuhe an, die sich eher für eine Theaterbühne als für eine Schlammwüste zu eignen scheinen. Die Familie von Janin Desir hat kein Glück gehabt. Ihr Mann? „Man hat ihn gefunden, tot“, berichtet sie. Ihr Kinder? „Zwei Töchter habe ich beerdigt, meine Adoptivtochter und drei weitere Kinder hat der Fluss mitgenommen.“

Vor neun Jahren war die Frau mit ihrem Lebensgefährten aus dem Nachbarland Haiti gekommen. Hier fand der Familienvater wenigstens ab und an als Gelegenheitsarbeit ein ärmliches Einkommen. Sie selbst hat die Flut nur überlebt, weil sie in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, als Hausmädchen arbeitet, vier Stunden entfernt. Alarmiert hat sie ihre Arbeitsstelle verlassen und ist nach Hause geeilt, als sie die Katastrophenmeldung hörte – in grünen Gummischlappen, kurzen Jeans und T-Shirt.

„Was soll ich machen?“, fragt sie wieder und wieder. Dann wendet sie sich ab, setzt sich auf eine der Kirchenbänke und beginnt in einem Haufen Schuhe zu wühlen, probiert ein Paar, fragt ihre Nachbarin, ob ihr die Schuhe stehen, lacht auf und beginnt zu weinen.

„Alle stehen unter Schock“, sagt Ercinar Jiménez, die seit dem Morgen versucht, den Überlebenden in diesem Schutzraum ein Minimum an psychosozialer Hilfe zu bieten. Ercinar hört zu, füllt Fragebogen aus. Hunderte Helfer sind aus allen Landesteilen gekommen und versuchen ihr Bestes. Ein Kleinlastwagen hält vor dem einstöckigen winzigen Kirchenbau. Von der Ladefläche werden ein paar Lebensmittel heruntergereicht. Kaum ist er weg, bremst schon der nächste, um auch etwas zu verteilen. Ein Mann zieht mit zwei Salamiwürsten von dannen, eine Frau hat eine Decke und eine Plastikflasche Wasser ergattert.

Die Mehrzahl der Überlebenden in La Cuarenta kommt aus Haiti. Sie haben Angst, manche halten sie sich in den wenigen Trümmern versteckt. Weil sie keine gültige Aufenthaltsgenehmigung und teilweise noch nicht einmal Ausweispapiere besitzen, fürchten sie, festgenommen und in die Nachbarrepublik, die noch schlimmer von der Unwetterkatastrophe heimgesucht wurde, abgeschoben zu werden.

Razzien waren schon vor der Katastrophe in La Cuarenta keine Seltenheit. Wer nicht das nötige Kleingeld hatte, um die Migrationsbeamten gnädig zu stimmen, landete auf der anderen Seite der Grenze. „Jetzt traut sich niemand, Hilfe einzufordern“, sagt Solange Pierre von der Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen (Mudha), die die Lage vor Ort erkundet und bei der Übersetzung aus dem Kreolischen hilft.

Beatrize hält einen Säugling mit schorfigem Hintern und Risswunden auf dem Rücken im Arm. Sie selbst trägt ein zerschlissenes Nachthemd. Von den Hilfsgütern, die auf der notdürftig wiederhergestellten Straße, knapp fünfzig Meter von ihrem Haus entfernt, vorbeirollen, hat sie noch nichts gesehen. „Ich würde alles nehmen, was sie mir geben“, sagt die Frau, die ihr Alter mit etwa zwanzig Jahren angibt. „Aber sie haben nichts gebracht.“ Dominikanische Nachbarn haben geholfen und das Wenige mit ihnen geteilt. Ihren Mann hat Beatrize das letzte Mal gesehen, als er in der Nacht ihre anderen drei Kinder an sich riss, um sie in Sicherheit zu bringen. Auch er ist irgendwo dort draußen in der Geröllwüste. Oder inzwischen in einem der vielen Massengräber verscharrt. Schicksalsergeben und mit immer leiser werdender Stimme sagt sie: „Er ist jetzt ein Engel.“