Chap oder Depp?

Die Seele der Gesellschaft ist erkrankt. Wir sind das Spielzeug von Großunternehmen geworden, die unsere Welt in einen gigantischen Shopping-Komplex verwandeln wollen. Freundlichkeit und zuvorkommendes Verhalten sind wertlose Flüchtigkeiten eines vergangenen Zeitalters – eines Zeitalters, als die Männer vor Ladys ihren Hut zogen und kleine Kinder einem den Terrier hüteten, während man sich in der örtlichen Restauration mit einem kleinen Hellen erfrischte. Heute leben wir in einer Welt, in der Kinder unförmige, kapuzige Wesen sind, die sich in schummrigen Winkeln herumdrücken, die Eckkneipen sind Filialen einer Pubkette, die sich auf eiskaltes Lager und den aggressiven Angriff auf das Nervensystem spezialisiert hat. Was soll man sagen, den Terrier dürfte man bei diesen Umständen wohl kaum jemals wieder treffen.

Der Chap wendet sich entschieden gegen die Kultur der Vulgarität und schlägt vor, Position zu beziehen. Wir müssen unseren Kindern zeigen, dass die wirklichen Werte im Leben nicht die neusten Plastiksneaker sind, sondern eine gepflegtes Paar Budapester. Wir müssen sie von ihren Alkopops entwöhnen und ihnen Martini- Mixturen erläutern. Die Jugend soll sich nicht länger für ihre Bäuche schämen, die sie in Nylonjogginganzügen verstecken – wir werden ihr beweisen, dass ein gut geschneiderter Anzug selbst einen komplett ruinierten Körper kaschieren kann. Und zuletzt: Lasst uns den Nachwuchs lehren, das Kanaksprech aufzugeben. Wir sollten seinen Wortschatz mit intelligenten Bonmots füllen.

Es ist höchste Zeit für Chaps und Chapettes aller Lebenslagen, aufzustehen und sich zu sammeln. Fürchtet euch nicht, ihr Müden und Kraftlosen und ihr einfach nur Faulen: Unsere Revolution gründet sich nicht darauf, früh aufzustehen. Unsere Revolte besteht aus einer erhobenen Augenbraue über einem gut sitzenden Monokel. Der Umsturz der Verhältnisse kann erreicht werden durch die Bestellung eines Portweins in einer All Bar One und durch das Tragen einer besonders kleidsamen Strickjacke beim Besuch des Wettbüros. Anders ausgedrückt: Unsere Revolution ist die Revolution des Zwickels.

Wir werden die Massen mitreißen mit unseren Hosenfalten, die Papier schneiden könnten, und mit unseren verwegenen Filzhüten, die den Straßenverkehr lahmlegen. Wir zwingen das Establishment in die Knie. Sie werden uns noch anflehen, dass wir ihnen erklären, wie man sein Tweedsakko mit Würde trägt. (www.thechap.net)

Dank Bankenkrise ist London nun nicht mehr der Nabel der Welt. Die Zurückgebliebenen widmen sich nun der Nabelschau: „Chaps“ und „Chapettes“ zelebrieren Englishness

VON JUDITH LUIG

Von den acht Tischen im Bramah Tea Room sind nur die wenigsten besetzt. Vereinzelt zelebrieren sich ein paar Gäste durch ihre Ansammlung von Gurkensandwiches und Scones, im Hinterzimmer vermischt sich billige Klaviermusik vom Band mit dem Getöse einer Gruppe Spanier, die gerade die Ankunft einer kunstgerecht bestückten Etagere feiert. Es ist Montagnachmittag, vier Uhr. Tea time in London Southwark. Wer jetzt die Tradition pflegt, ist entweder Tourist oder – was deutlich aufregender ist – Chap.

Chap ist ein Lebenskonzept, das sich in Tweed, gepflegten Schnurrbärten und einer Vorliebe für Exzentrik manifestiert. So richtig lässt sich der Begriff nicht ins Deutsche übersetzen. „Chap“ bedeutet so viel wie „Kerl“, man sagt es jedoch anerkennend – von Gentleman zu Gentleman. Ein Chap ist dekadent und gleichzeitig ein bisschen runtergekommen, ein Hedonist, dessen sorgfältig ausgewählte und schräge Klamotten schon etwas Schlagseite haben. Ein bisschen so wie London in Zeiten der Finanzkrise gewissermaßen.

In dem Moment, in dem die Welt in die Kreditkrise trudelt, bietet sich der Chapismus als wundervolle Alternative an. „Höher, schneller, weiter“ ist für eine ganze Generation erst mal abgeschrieben, vielleicht wäre das ein guter Moment, sich dem bewussten Verzicht auf Erfolg anzuschließen und Chap zu werden.

Wer wissen will, ob er zum Zeitgeist gehört, kann sein Bild zum gleichnamigen Magazin (www.thechap.net) senden, und sich aufklären lassen. Allerdings sollte er nicht darauf hoffen, dass einem allzu leichtsinnig die chap-hood verliehen wird. Wer glaubt, eine Pfeife und ein glänzender Morgenrock à la Clark Gable allein bringen einen weiter, hat sich geirrt. Simon Kind, der ein Foto von sich auf seiner Hochzeitsreise in „Titanic“-Pose eingeschickt hat, wird von der Redaktion getadelt: „Was ist mit Ihrem Kragen, Sir? Und was macht die Krawatte in der Hosentasche? Sollte Ihre Ehe diese Bootstour nicht überstehen, würde es uns nicht wundern.“

Beim Chapismus geht es nicht um Status oder Einkommen, es ist vielmehr die Verweigerung, mit der Masse zu gehen, die den distinguierten Gentleman ausmacht. So ist der Star Chap der letzten Ausgabe auch Philip Steel, der auf dem eingesandten Foto tadellos gekleidet am helllichten Tag im Pub steht und allein Ale kippt. Wie könnte man den vollendeten Chap beschreiben? „Jemand, bei dem sich keiner traut, zu fragen, wo er ein bestimmtes Kleidungsstück gekauft hat, da alle automatisch wissen: ‚Bei mir würde das nie so perfekt aussehen wie bei ihm.‘ “

Gustav Temple ist selbstredend ein einwandfreier Chap. Er kann sich da sehr sicher sein, schließlich hat er als Chefredakteur von The Chap das Konzept maßgebend geprägt. Mit seinem karierten Hosen, der abgewetzten Ledertasche und dem obligaten Bowler Hat fällt er sofort auf, als er den Bramah Tea Room betritt. Der Besitzer kommt auch prompt an unseren Tisch, nickt anerkennend zur exzellenten Teewahl und übt ein bisschen Small Talk. Mit seinem Magazin versucht Temple, auch seinen Mitmenschen zum größtmöglichen Abstand von der Norm zu verhelfen. Das Heft berät den modernen Gentlemen in allen Lebenslagen: Religion, Verhalten bei Flugreisen oder bei einer Safari. Und auch wenn es auf den ersten Blick so wirken mag: Der Chap ist kein Männermagazin. Auch Frauen können Chaps sein, oder Chapettes, je nachdem, ob sie nun Federboa oder Pfeife bevorzugen.

Der Chap hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gesamte Weltgeschichte unter den Vorzeichen des Chapismus zu sehen. Wie sich herausstellt, kann man dieses Phänomen sogar bis in die Bibel zurückverfolgen. Adam zum Beispiel, abgesehen von den Unzulänglichkeiten seiner Garderobe, beweist mit seiner Vorliebe für verbotene Früchte sehr deutlich Qualitäten eines Chaps. Noah hingegen scheidet aus, da ein Chap angesichts eines vierzigtägigen Regens wohl kaum Elle und Beil herauskramen würde, sondern sich diskret ins nächstgelegene Hotel zurückgezogen hätte.

Zum Chapismus gehört aber auch der politische Aktivismus gegen Ungeheuerlichkeiten wie Schnellkaffeeketten und Restriktionen für Raucher. „Wir haben als Aktion gegen das Rauchverbot eine drei Meter lange Pfeife gebastelt“, erzählt Temple stolz. „Die haben wir durch die Tür des Pubs nach draußen geleitet. So konnte man weiter drinnen rauchen.

Trotz seiner enthusiastischen Verehrung von Englishness sollte man dem Chap keinen Nationalismus vorwerfen. Es ist eher eine besondere Art, sich der Globalisierung und der durch Massenkonsum entstehenden Gleichmacherei zu verweigern. Das bekommen auch die Fast-Food-Giganten zu spüren oder zumindest ihre Mitarbeiter. Regelmäßig stürmen Temple und seine distinguierten Mitstreiter tadellos gekleidet McDonald’s und Konsorten und verlangen ein „full English breakfast“.

„Wir halten an englischen Traditionen fest“, erklärt Temple, „einfach deshalb, weil viele von ihnen dazu führen, dass man sich gut fühlt.“ In der Kälte vor einem englischen Pub an einer Hauptverkehrsstraße zu stehen und eine Marlboro Light zu qualmen sei nun einmal kein besonders erhebendes Erlebnis.

Leider stellte sich übrigens aber auch die Distanzpfeife als wenig überzeugend heraus. „Dieses Ungetüm hat Unmassen von Rauch produziert, die dann zurück in den Pub gezogen sind, und alle mussten schrecklich husten.“ Elegantes Scheitern gehört aber durchaus zum Lebensstil eines Chaps.

Erfolgreicher waren die Proteste „Make Gloves, Not War“, eine Spontandemo in der City, zu der sich mehrere hundert Sympathisanten der Londoner Boheme eingefunden hatten. Sehr gut besucht sind auch die Chap-Olympics, die jährlichen Feststpiele gegen die sportliche Vulgarität. In einer besonders herausfordernden Disziplin müssen sich Chaps gegenüber einer Lady wie Flegel benehmen; wer am härtesten geohrfeigt wird, gewinnt. Andere beliebte Wettstreite sind das „Hüpfen über den Rasen mit einem möglichst vollen Glas Gin Tonic“, möglichst schnell mit einer Pfeife im Mund zu laufen, ohne eine Anstrengung erkennen zu lassen, sowie Martini mixen mit Hundertmeterlauf. Das übergeordnete Ziel all dieser Bemühungen: sich selbst formvollendet zum Deppen machen.

JUDITH LUIG, 34, ist taz.mag Redakteurin. Sie kann sechs Pimms trinken, ohne Haltung oder Gurkenstückchen zu verlieren