Panorama für die Nerven

Radio Bremen hat eine Cyberoper produziert. „Neu-Romancer“ ist die ehrgeizigste Produktion des Jahres und erzählt von Nerven-Träumen und virtuellem Wahnsinn

Hörspielmann Holger Rink: „Wir haben heute emotional verarmte Leute mit bedenklich begrenzten Beziehungsmöglichkeiten.“

Vor 20 Jahren, im Juli 1983, hat William Gibson auf einer klapprigen Schreibmaschine seinen Roman „Neuromancer“ beendet. Den Erfinder des Wortes „Cyberspace“ – bis vor kurzem erklärter Verweigerer des Internets – katapultierte das Buch zum Kultautor der Science-Fiction-Fans. Das Medium hat ihn eingeholt, unter www.williamgibsonbooks.com schreibt er ein Tagebuch.

Radio Bremens Hörspielabteilung setzt ihm jetzt ein akustisches Denkmal: Der „Neuromancer“ geht nach sechs Jahren Konzeption und Produktion ab 11. Juli als Dreiteiler auf Sendung und erscheint gleichzeitig als Hörbuch. Mit Hörspielchef Holger Rink präsentierte Regisseur Alfred Behrens jetzt seine „bisher größte akustische Herausforderung“ und deren ungewöhnliche Produktionsgeschichte – für Radio Bremen die ehrgeizigste und aufwändigste Produktion des Jahres.

Die Geschichte: Der Datencowboy Case ist am Ende, das Nervensystem von seinen Auftraggebern zerstört. Er erreicht die Matrix des Cyberspace nicht mehr und hält sich mit irdischer Kleinkriminalität und Drogenkonsum im korrupten Tokio über Wasser. Ein Deal verspricht ihm Heilung gegen Datenbeschaffung. Case gerät zwischen konkurrierende künstliche Intelligenzen und driftet in den virtuellen Wahnsinn ... – wörtlich bedeutet der unübersetzbare Titel „Neuromancer“ vielleicht Nerven-Träumer.

„Was von Gibsons 20 Jahre alten Visionen hat sich realisiert, was ist Science Fiction geblieben?“, fragt sich Rink. „Wir haben ja heute emotional verarmte Leute mit bedenklich begrenzten Beziehungsmöglichkeiten.“ Und Behrens hat für diesen Übergriff der Technik auf die Nerven ein akustisches Panorama geschaffen: Ständig verpasst man was, will einer Stimme nachgehen, mehr hören – und verliert den Faden, stolpert über Soundbrocken, wird durch Piepser, Töne, Klingeleien irritiert.

Eine „ganz realistische akustische Verortung“ ermöglichten Alfred Behrens eigens eingesammelte O-Töne: Aus Istanbul besorgte ARD-Korrespondent Jörg Pfuhl Reality, den „Notting Hill Carneval“ lieferte die BBC und Malte Jaspersen schickte Tokio-Sounds. In der „Zeit“ las Behrens über Data Pop und Electronica – bald hatte Rink mit den auf solche Töne und ihre Erfinder spezialisierten Labels „morr-music“ in Berlin und „echobeach“ in Hamburg „Label-Deals“ ausgeheckt. Der „Neuromancer“-Soundtrack stammt komplett von ihnen.

In nur zehn Tagen wurden in den alten Studios des Rundfunks der DDR in der Berliner Nalepastraße über 30 Stimmen aufgenommen. Das sparte Fahrtkosten der Schauspieler und ermöglichte Behrens „die umgekehrte Reise mit einer Zeitmaschine, mit diesem Science-Fiction-Stoff zurück in die 60er Jahre“.

Im Bremer Studio spielten sich Behrens, Klaus Schumann (Ton), Claudia Jira (Schnitt) und Wolfgang Seesko (Assistenz) „in einer Art Kollektivimprovisation, mit Wiederholung und Variation“ akustische Bälle zu, spielten und experimentierten mit Sounds, Musik und Stimmen „wie eine kleine Jazzbesetzung“.

Die unvermeidliche Lohnt-sich-denn-all-der-Aufwand-Frage nach der vermeintlich so „kleinen Liebhabergruppe“ der Hörspielfans pariert Holger Rink mit einem kleinen Exkurs zur Verwertungskette der neuen Cyberoper: Am 8. August gibt’s für das „Neuromancer“-Hörbuch eine Record-Release-Party in der Berliner Volksbühne. Die WDR-Popwelle „Eins Live“ sendet das Stück auf ihrem Hörspiel-Sendeplatz, der nachts regelmäßig an die 100.000 Hörer lockt. Andere ARD-Anstalten wollen das Stück übernehmen – macht „mindestens eine halbe Million HörerInnen“, rechnet Rink.

Für so was braucht man die richtigen Stoffe – und Regisseure wie Alfred Behrens, der „etwas ganz anderes als den ARD-typischen Hörspiel-Kammerton“ suchte und fand.

Carsten Werner

Sendetermine: 11., 18. und 25. Juli, jeweils zwichen 22.05 und 23.30 Uhr im Nordwest-Radio