„Den Taliban nicht erlegen“

Oberschülerinnen in der afghanischen Provinz Nimros unterhalten sich über das frühe Heiraten, fehlende Kinderwünsche und ihre späte Chance, etwas für sich zu lernen

Saida: Wir freuen uns, dass wir durch euch von zwei Stunden Unterricht in Chemie und Mathematik befreit sind. Ihr könnt das Gespräch also gerne in die Länge ziehen.

taz: Welchen Berufswunsch habt ihr?

Schakila: Ich will Ärztin werden.

Schabnam: Ich Pilotin.

Malalai: Ingenieurin.

Sima: Archäologin.

Mariam: Ingenieurin.

Jalda: Polizistin.

Saida: Literatin. In Nimros heiraten Mädchen normalerweise sehr früh, mit 14 oder 15, weil ihre Familien das so wollen. Aber von uns hier ist niemand verlobt und nur eine verheiratet. Wir sind also alle frei und sauber. Und haben keine Zeit, über Kinderwünsche nachzudenken.

Golmakay: Literatin und Journalistin. Ich bin in der 12. Klasse und bin selbst schon als Lehrerin tätig, ich unterrichte hier morgens vor Schulbeginn Englisch, und nachmittags bilde ich mich im Lehrerkolleg weiter.

Gibt es Ehemänner, die ihren Frauen die Berufsausübung erlauben?

Saida: Meine Brüder. Ihre Frauen arbeiten.

Mariam: Mein Mann sagt, er würde mich überallhin begleiten, auch zum Studium nach Kabul.

Schakila: Solchen Männern sind wir noch nicht begegnet.

Jalda: Ich bin 19 und in der zwölften Klasse. In der Mittagspause der Schule von 12 bis 13 Uhr bringe ich Erwachsenen das Lesen und Schreiben bei, am Nachmittag arbeite ich als Sprecherin im Radio. Frauen sind stark, sie können vieles miteinander vereinbaren.

Malalai: Auch in der Provinzregierung gibt es Frauen, die in Männerberufen arbeiten, zum Beispiel in der Direktion für Verbrechensbekämpfung oder in der Verwaltung.

Saida: Ich bin als kleines Kind mit meinen Eltern in den Iran geflüchtet. Ich hatte große Angst zurückzukehren, aber dann merkte ich, dass auch hier Menschen fortschrittlich denken und hart am Aufbau des Landes mitarbeiten. Mein Ziel ist es, meinem Land zu dienen. Wenn man Ziele hat, hat man Hoffnung im Leben. In Nimros gibt es viele fortschrittliche Männer, mit denen es sich leben lässt. Es gibt hier Frauen und Männer, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren.

Wie haltet ihr es mit der islamischen Kleiderordnung?

Saida: Es ist nicht wichtig, was du trägst, sondern was du glaubst. Und der Glaube liegt im Herzen, nicht auf dem Kopf.

Schakila: Unsere Eltern und viele traditionell Denkende beeinflussen uns. Es wird Zeit, dass wir jungen Leute unsere eigenen Vorstellungen entwickeln. Es gibt junge Männer, die nur „sittsame“ Mädchen heiraten. Das ist eine Art von Sanktion: Wenn du frei lebst, kriegst du keinen Mann ab. Aber wir wollen eh nicht so schnell heiraten.

Golmakay: Wenn Menschen über andere schlecht reden, haben sie selbst ein schmutziges Herz.

Sima: Eine Frau sollte die jetzige Freiheit nicht ausnützen und immer ein Kopftuch tragen. Es sollte nicht wieder so werden wie unter den Sowjets. Damals haben die Frauen kein Kopftuch getragen, dafür Miniröcke. Wir wollen unsere Beine nicht zeigen, wir sind Muslime.

Saida: Persönliche Freiheit bedeutet nicht, sich wie Ausländer zu kleiden. Die afghanische Kultur gebietet, dass wir islamische Kleidung tragen. Sie verlangt aber nicht den schwarzen Tschador oder lange Mäntel. Jedes Land hat seine eigene Kultur. Der Tschador gehört nicht zu unserer Kultur. Ich habe im iranischen Exil mitverfolgt, wie eine Delegation nach Deutschland fuhr zu einem Kongress im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Eine iranische Frau saß dort im Publikum mit Tschador, eine andere ohne Ärmel und Kopftuch. Der Mullah auf dem Podium wies auf die Frau im Tschador hin: Seht, so wollen wir die Frauen bekleidet wissen. Sie aber stellte sich auf einen Tisch, warf den Tschador ab, und darunter trug sie nur einen Bikini. Sie rief: „Ihr seid auf den Trick reingefallen, auf Äußerlichkeiten. Ich trage Bikini, und die Frau mit den kurzen Ärmeln betet dafür fünfmal am Tag.“ (lacht)

Wie habt ihr die Zeit unter den Taliban erlebt?

Saida: Alle afghanischen Frauen beweisen, dass sie dem Einfluss der Taliban nicht erlegen sind. Auch als sie im Haus eingesperrt waren, haben sie versucht, sich weiterzubilden und ihre Würde zu bewahren.

Malalai: Einmal verrichtete ein Mann sein Abendgebet in der Moschee, und als er sie verließ, wurde er von den Taliban aufgegriffen und wieder in die Moschee zurückgeschickt. Das geschah insgesamt fünfmal. Beim fünften Mal sagte der verzweifelte Mann zum Mullah: Jetzt schreibst du aber auf, dass ich schon hier war! (Die Runde lacht)

Schakila: 1998 wollten wir unbedingt die Fußball-Weltmeisterschaft im Fernsehen begucken, aber die Taliban haben ja das Fernsehen verboten. Also verklebten wir alle Fensterscheiben, einer musste Wache schieben. Aber niemand wollte das, denn alle wollten ferngucken.

Golmakay: Unsere einzige Beschäftigung während der Herrschaft der Taliban war, iranisches Fernsehen zu gucken.

Torpekay: Natürlich brauchte man dafür immer sieben Schlösser und viele Vorhänge und Wachposten.

Mariam: Einmal wollten wir nach Herat fahren und mussten an der Provinzgrenze einen Passierschein vorlegen. Die Wachposten der Taliban waren natürlich alle Analphabeten. Sie fragten: „Was steht denn auf dem Schein?“ Wir antworteten: „Diese Familie soll unversehrt Herat erreichen.“ (lacht)

Topikay: Einmal predigte der Mullah in der Moschee: „Ihr dürft nicht fernsehen, das ist Teufelswerk, sonst werdet ihr wie die ‚Titanic‘ untergehen!“ Die Leute fragten erstaunt: „Woher weißt du denn etwas über die ‚Titanic‘?“ Er wurde ganz verlegen. Natürlich aus dem Fernsehen. (lacht)

Mariam: Einmal unterhielten sich zwei Jungen am Straßenrand über die ‚Titanic‘. Ein Talib hörte mit. Und fragte am Ende: „Sagt mal, war die ‚Titanic‘ ein Junge oder ein Mädchen?“ (lacht)

Schakila: Einmal wurden wir beim Fernsehen erwischt, und die Taliban wollten das Gerät beschlagnahmen. Meine Cousins bauten ganz schnell die Innenteile aus und gaben ihnen das nackte Gehäuse mit. Sie haben es nicht bemerkt. (lacht)

Habt ihr Angst vor der Zukunft, Angst, dass die Taliban wiederkehren?

Golmakay: Wenn wir Afghanen uns einigen würden, dann könnten wir eine gute Gesellschaft aufbauen. Aber wenn wieder alle um die Macht kämpfen, wäre das schrecklich, und die Taliban kämen vielleicht wieder. Die Angst ist latent da. Deshalb brauchen wir eine Regierung der nationalen Einheit.

Sima: Wenn fremde Mächte sich in Zukunft aus Afghanistan heraushalten, habe ich Hoffnung, dass Afghanistan zur Ruhe kommt.

Malalai: Wir haben keine Vorstellung, wie die Zukunft aussieht. Seit ich geboren bin, gibt es ständig Veränderungen.

Habt ihr nicht langsam die Nase voll vom Kopftuch?

Golmakay: Der Islam ist nicht gegen den Fortschritt. Vieles, was der Islam sagt, wird heute von der Wissenschaft bestätigt. Zum Beispiel führt wahlloser Geschlechtsverkehr zu Krankheiten, Aids und anderen Sachen. Im Koran steht jedoch nicht, dass Frauen nicht arbeiten und lernen dürfen. Gott sagt, sämtliche Gebote sind kein Muss. Im Islam gibt es keinen Zwang. Man muss nur die Konsequenzen selbst tragen und wird unter Umständen im Jenseits bestraft. Wenn der Schleier zum Zwang wird, ist das falsch. Wir wollen Selbstbestimmung.

Jalda: Dass uns manchmal das Kopftuch runterruscht, ist nicht der Grund für 23 Jahre Krieg. Unter den Taliban war Afghanistan islamischer als jemals zuvor. Und ist am meisten zerstört worden. INTERVIEW: MARIAM NOTTEN
UTE SCHEUB