Phantome und Schmerzen

Sehnsüchte und Aufräumarbeiten nach dem Krieg: Das Balkan-Black-Box-Festival zeigt Filme über Flüchtlinge in Bosnien und ethnische Säuberungen in Kroatien

„Wie kann etwas wehtun, was man nicht mehr hat?“, fragt der zehnjährige Ado seinen Freund Enes. Mit großen Augen blickt er auf Enes’ Bein. Der Unterschenkel fehlt. Dennoch, sagt Enes, schmerzt es manchmal dort, wo nichts mehr ist.

Ado und Enes leben in einem Flüchtlingslager im heutigen Bosnien. Sie sind die Hauptfiguren des Spielfilms „The Letter“, der heute Abend das Festival balkan black box im Nickelodeon eröffnet. Der Film gibt das Hauptthema des Festivals vor: die Zeit nach dem Krieg. Diese Zeit wird in „The Letter“ nicht als hoffnungslos dargestellt: Die Menschen sehnen sich nach einem besseren Leben. Und sie glauben, dass sich diese Hoffnungen erfüllen können. So auch Enes. Er baut darauf, dass ihm die UNO neue Gehhilfen beschafft. Dafür schreibt er mit Ado einen Brief an das UN-Office in Tuzla.

Konsequent nimmt der bosnische Regisseur Denijal Hasanović auf Ados Weg durch die bosnische Nachkriegsgesellschaft die Erzählperspektive des Kindes ein. Der Junge wünscht, es möge alles gut werden, wie im Märchen: für Ados Mutter eine gut bezahlte Arbeit, für den Maler eine neue Frau, für den Alten einen Schimmel als Freund. Damit der Schmerz vergeht und das richtige Leben wieder beginnt. Um seine Wünsche wahr werden zu lassen, hat der Film zwei Enden, eines, das sie wahr werden lässt, und ein realistisches.

Nicht nur um Sehnsüchte geht es in vielen aktuellen Filmen aus dem ehemaligen Jugoslawien, sondern auch um Vergangenheitsbewältigung. Der Dokumentarfilm „Operation Storm“ unternimmt im Fall der Rückeroberung der abtrünnigen serbischen Krajina durch kroatische Truppen im Jahr 1995 eine Neuinterpretation der Ereignisse. Damals verließen fast alle 250.000 Serben die Krajina – freiwillig, wie es damals hieß.

„Operation Storm“ ist in Kroatien ein Politikum. Der Filmemacher Božidar Knežević zitiert darin die Statements des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und kroatischer Generäle vom August 1995. Ihnen stellt er Zeugenberichte und unzensierte Aufnahmen des kroatischen Fernsehens gegenüber. Er befragt UN-Repräsentanten vor Ort und kroatische Menschenrechtler zu ihrer Sicht der Ereignisse. Knežević zeichnet so das Bild einer ethnischen Säuberung. Er rekonstruiert dafür zahlreiche Einzelfälle wie die Brandschatzung des Dorfes Plavno bei Knin und die Ermordung eines Teils der verbliebenen Bewohner durch kroatische Soldaten. Dafür wurde der Journalist in Kroatien heftig angefeindet. Sogar der seit 2000 amtierende Reform-Ministerpräsident Ivica Račan distanzierte sich öffentlich von dem Film, wohl weil dieser am Mythos vom „sauberen Kroatien“ kratzte. Knežević kam kurz nach der Erstausstrahlung des Films im November 2001 bei einem Autounfall ums Leben. Er starb wie andere Regimekritiker im ehemaligen Jugoslawien vor ihm: Sein Auto wurde zufällig von einem Lkw gerammt.

Die Macher von balkan black box zeigen mit solchen Filmen, dass ihre „Tage der unabhängigen Kunst aus Südosteuropa“ auf einem politischen Anspruch beharren. Das gilt auch für die weiteren Filme, Konzerte und Diskussionen, die bis zum 9. Juli geplant sind. HEIKO HÄNSEL

„The Letter“ (Regie: Denijal Hasanović, Polen 2001), „Operation Storm“ (Regie: Božidar Knežević, Kroatien 2001), Termine siehe Programm