Versteckt in den Falten des Himalaya

Die Touristen kommen nach Sikkim auf der Suche nach Alternativen zu den verbrauchten Shangri-Las und den übervölkerten Routen in Nepal. Besuch im Kloster Pemayangtse mit seinem Projekt „Praktizierter Buddhismus“ und der Versuch sich trotz des Zustroms von Hindus zu behaupten

von GUNDA SCHWANTJE
und FREDERIK BEKER

Kaskadenartig und in allen Schattierungen der Farbe Grün fällt üppiger Regenwald mit Bananenstauden, Jacaranda, Magnolien, Rhododendren und hüfthohem Farn die Berghänge hinab. Über 600 Arten Schmetterlinge gibt es hier, 454 Arten Orchideen und einen Horizont mit den höchsten Erhebungen der Welt. Umschlungen von Nepal, Tibet und Bhutan liegt hoch im Himalaya versteckt das ehemalige kleine Königreich Sikkim. Seit 1975 ist Sikkim, dessen Fläche ungefähr zweimal in die Niederlande passen würde, Indiens 22. Bundesstaat und beherbergt gut eine halbe Million Menschen. Dieses Gebiet ist wenig bekannt. Und nur ein begrenzter Bereich Sikkims ist offen für Ausländer. Für 15 Tage. Mit einem speziellen Visum.

Auf den Bergrücken ragen Klöster und Stupas in die Wolken und das Rufen der Muschelhörner tönt durch stille Täler. Buddhisten haben Sikkim geprägt. Ab dem 17. Jahrhundert waren Tibeter von der Rotmützensekte aus Kham vor den Gelbmützen geflüchtet über das Eismassiv des Himalaya nach Süden, nach Sikkim, und brachten Buddhas Lehre mit. Zentrum der Nyingma-pa, der Rotmützensekte, ist das Kloster Pemayangtse. Die mit Wandgemälden und Statuen prächtig gestaltete Anlage liegt im Westen Sikkims, und von hieraus hat der Besucher, so es das Glück will, einen wunderbaren Blick auf den Himalaya mit dem nahen Kanchenjunga, mit 8.586 Metern der Welt dritthöchster Berg. An diesem Nachmittag allerdings beschränkt sich die Aussicht auf eine tiefschwarze Wolkenwand. Jungen in rotem Tuch, das sie als Segel einsetzen, lassen sich von dem aufziehenden Sturm im Innenhof des Klosters herumwehen. Später flitzen die kleinen Mönche barfuß durch die Pfützen und rangeln scherzend um die Beute, die vor wenigen Minuten noch auf dem Altar zu Füssen Buddhas als Opfergabe gelegen hatte: Bananen, Kekse, Nüsse, Orangen, Schokolade.

Der Mönch Yapo S. Yongda, an der Hand eine Ledertasche mit Laptop, am Gürtel ein Handy, ist eine Legende. „Ich stamme aus einer gutsituierten Bhutia-Familie, die mich mit fünf in dieses Kloster geschickt hat“, erzählt der Mann mit den mongolischen Gesichtszügen in seinem persönlichen Gebetsraum beim Chang, dem tibetischen Gerstenbier. Mit elf Jahren habe er die Prüfungen zum Mönch abgelegt. Normalerweise geschieht das mit 18. Nach einer Karriere in der Armee diente Yapo S. Yongda dem letzten Chögyal (König), Palden Thondup Namgyal, als Privatsekretär und Leibwächter und erlebte an dessen Seite 1975 den Sturz der Monarchie. „Turbulente Tage waren das“, erinnert er sich, „mit Massendemonstrationen aufgebrachter Nepalis.“

Die seit etwa 1850 nach Sikkim immigrierten Nepalis hinduistischen Glaubens – längst an Zahl überlegen – forderten demokratische Rechte, was zu den Konflikten mit dem autokratischen König und der Bhutia-Aristokratie führte. Eine Volksabstimmung im April 1975 besiegelte das Ende der Monarchie und den Anschluss Sikkims an Indien.

Yapo S. Yongda sitzt im Lotussitz im Schein einer Öllampe. Wieder einmal ist der Strom ausgefallen. 21 Taras sind auf seinem Altar, Butterlampen und Gebetsschals in Zartgelb. An den Holzwänden gerahmte Bilder von ihm mit dem letzten Chögyal, als Offizier, mit seiner Frau, mit seinen Kindern. Vor ihm auf dem Holztisch liegen rituelle Gegenstände. „Praktizierter Buddhismus“ nennt Yapo S. Yongda das Projekt „Denjong Padma Choeling Academy“. Seit 1980 betreibt er in eigener Regie, aus eigenen Mitteln und mit Spenden eine Schule für Waisen und Kinder aus armen Familien. 308 Kinder von fünf bis 16 Jahren leben vis à vis des Klosters in einem Gebäude, das aussieht, als habe die Zeit intensiv an ihm gearbeitet. In Wohnräumen aus nacktem Beton stehen Doppelstockbetten. Die Kinder sind Schlichtheit und enges Zusammenleben gewohnt. Auch die Kälte, die einen hier im Winter ankommt. Sie erzählen den Besuchern, dass sie froh sind, hier zu sein. „Verschreibe dich einer Sache ganz und arbeite daran mit Hingabe und Ausdauer.“ Seinen Glaubenssatz befolgt Yapo S. Yongda stoisch und um sich effektiver für die Schüler stark zu machen, hat er das einflussreiche Amt als Abt des Klosters Pemayangtse wieder abgelegt.

Buddhismus steht auf dem Lehrplan. Eine Stunde jeden Morgen. Lange hat der Mönch deshalb auf finanzielle Unterstützung des indischen Staats gewartet. Nun treffen Rupien im Wert von 11.500 US-Dollar ein, jährlich, 90.000 USD sind nötig. 25 Dollar kostet ein Kind im Monat.Yapo S. Yongda nimmt auch praktische Hilfe an: unbezahlt arbeiten Freiwilligen aus Europa, Nordamerika und den reichen Staaten Asiens als Lehrer neben bezahlten einheimischen Lehrern. 90 Tage maximal können die Volontäre bleiben. Die Freiwilligen leben an der Seite des Mönchs im Kloster Pemayangtse. „Umgangssprache ist Englisch, und darin wird auch der gesamte Unterricht abgehalten“, sagt Yapo S. Yongda. „Wenn die Kinder gut Englisch lernen, haben sie später eine realistische Chance auf eine Arbeit.“

„Seit Sikkim zu Indien gehört, ist die buddhistische Kultur bedroht“, behauptet der Mönch. Tatsache ist: 75 Prozent der Bevölkerung sind Nepalis, und Nepali ist jetzt Landessprache. Außerdem nimmt Sikkim einen beständigen Strom neuer Immigranten auf – Inder aus den Bundesstaaten Westbengalen und Bihar, die hier ihr Glück versuchen. Und: Neu Delhi investiert in Sikkim mehr als in anderen Bundesstaaten in die Infrastruktur. Das schafft Arbeitsplätze. Und Hoffnung.

Gangtok, die Hauptstadt, frisst sich seit einem Jahrzehnt mit öden Konstruktionen aus Beton in die bewaldeten Hügel. Wie irgendeine indische Stadt sieht das aus. Und nach Pelling, etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von Pemayangtse, ist die Moderne vorgerückt in Form von Touristen. Gut drei Dutzend Hotels stehen aufgefädelt entlang de, Grat eines Höhenzugs, gewerkelt und gezimmert wird an einem weiteren Dutzend. Inder der schnell anwachsenden Mittelklasse und aus den Metropolen fliehen in der glutheißen Zeit vor dem Monsun in die Berge und haben Sikkim entdeckt als Ersatz für das einst beliebte und heute risikoreiche Kaschmir. Sie logieren wie die Backpackers in Pelling.

Jeden Morgen das gleiche Ritual: Erwartungsvoll gehen die Touristenblicke zuerst nach Norden. Wieder nichts. Außer: Nebel, Regen, Wolkenwände. Die Achttausender halten sich bedeckt. So ist das im Winter, sagen die Einheimischen. Doch schließlich, endlich, nachts, bei Vollmond, zieht der Vorhang langsam auf und gibt ein Bild frei, das sich einprägt: hoch am Himmel thronen sie. Eisgekrönt. Die Giganten des Himalaya. Kanchenjunga, Kabru, Pandim. Allem Irdischen entrückt, so scheint es. Dort oben wohnen die Götter, behaupten die Einheimischen, und der Kanchenjunga ist ihnen heilig. Deshalb darf keiner diesen Gipfel betreten. Zehn Meter unterhalb der Spitze müssen sich die Trophäenjäger in den Expeditionen zufrieden geben. Aus Respekt vor der buddhistischen Kultur.

Aufbruch nach Yuksom. Ein schweres Bündel Brennholz schwankt den Hang hinab. Auf Beinen, die steile Wege und das Klettern gewohnt sind und barfuß zieht ein alter Mann versteckt unter Holz ins Tal. Vorbei an einer Kardamonplantage und an winzigen Terrassenfeldern, die kunstvoll am Hang kleben. Hier wird Reis und Gerste angebaut. Vorbei an einem kleinen Haus aus Bambus und Lehm mit einer Kuh, drei Schweinen, an drei Ziegen samt Nachwuchs und sieben Hühnern: die Lebensgrundlage einer vielköpfigen Familie. 90 Prozent der Sikkimesen leben auf und von dem Land. Er zieht vorbei an dem Bauern, der mit einem Ochsen, einem Holzpflug und unter Einsatz von sieben Helfern mit Hacken ein Feld rodet. Hart ist der Alltag. Doch die Menschen sind freundlich und gelöst.

Tragetiere, Treiber und Touristen sammeln sich auf dem Dorfplatz Yuksoms für einen Treck der Bergerprobten in den Kanchenjunga-Nationalpark um von 1.600 auf 5.200 Meter zu steigen. Wegen des Panoramas kommen sie, wegen der Artenvielfalt und der Ursprünglichkeit in den Dörfern an der Grenze zum Eis. Und sie kommen, weil Alternativen gefragt sind zu verbrauchten Shangri-Las, zu den übervölkerten Routen in Nepal, zu den stattlichen Eintrittspreisen Bhutans. Ein paar Tage können sie bleiben. Mit einer weiteren Sondergenehmigung.