Die Frau, die den Ostdeutschen Pulver gibt

Eine Frau, die behauptet, eine typische Ostdeutsche zu sein, muss erzählen. Eine Frau, die das aufschreibt, muss zuhören. Nach diesem Rezept hat Martina Rellin einen Bestseller gebacken:„Klar bin ich eine Ost-Frau“

VON NADJA KLINGER

Plopp! Es wird dunkel. Nur zwei dicke Strahler werfen weißes Licht auf die Bühne. Dort stehen Stuhl und Tisch und eine Flasche Wasser. Durch die voll besetzten Sitze vor der Bühne zieht sich eine Schneise. Ein Teppich liegt aus. „Freuen Sie sich auf Martina Rellin!“, ruft eine Stimme über Lautsprecher. Sekunden knistern. Dann kommt die Frau. Von hinten aus dem Dunkel ins Grelle. Wie ein Star. „Das gab's noch nicht“, sagt sie, als sie Platz genommen hat, „dass ich so aufmarschieren musste.“

Wenn auch keinen Aufmarsch, so hat sie doch einen Durchmarsch hinter sich. Man könnte sagen, sie war im ganzen Land. Zwar befinden sich die Städte Magdeburg, Cottbus, Leipzig, Rostock, Schwerin, Strahlsund, Greifswald, Weimar und Chemnitz allesamt im Osten. Jedoch muss man hinzufügen: An der ehemaligen innerdeutschen Grenze hört die Mission von Martina Rellin auf. Nicht weil sie nicht in den Westen will. Auf der Leipziger Buchmesse hat man sie in den Taunus eingeladen. Nun wartet sie, dass ein Anruf kommt und der Termin für die Lesung gemacht wird. Sie wartet und wartet. Derweil liest sie unterm weißen Scheinwerferlicht in Dresden.

Möglicherweise ist es ihr wirklich nicht recht, so in Szene gesetzt zu werden. Schließlich hat sie kein literarisches Meisterwerk fabriziert. Gemessen an einigen harschen Rezensionen, hat sie auch kein großartiges Sachbuch geschrieben. Jedoch muss sie gewusst haben, dass jede Lesung wie ein Event werden würde. Sie hatte den Titel, bevor sie überhaupt zu arbeiten begann. Er lautet: „Klar bin ich eine Ost-Frau“. Er schickt sich an, ein paar Angelegenheiten, an denen die Deutschen würgen, aufzuklären. Es ist ein Titel mit Ambitionen. Er gibt vor zu halten, was schon viele versprochen haben. Er kommt daher wie ein neues Diätpulver.

Gegen Diätpulver gibt es allerhand einzuwenden. Aber jedes hat seine Wirkung. Im Nu werden ein paar Pfunde aus den Körperöffnungen gespült. Der Mensch, der es von allein nicht hinbekommt, angemessen zu speisen, fühlt sich wohl. Anders gesagt: Eine Frau, die behauptet, eine typisch Ostdeutsche zu sein, muss erzählen. Eine Frau, die das aufschreibt, muss zuhören. Aus Erzählen und Erhörtwerden ist Martina Rellins Buch gemacht. Pulver für Ostdeutsche. Dass es ungewollte Nebenwirkungen haben könnte, spielt keine Rolle angesichts des seltenen Wohlfühlmoments, den es bietet.

„Es hat einfach Plopp! gemacht“, sagt die Autorin, „und ich wusste, das ist der Titel.“

Martina Rellin wurde in Hamburg geboren, hat dort 1982 ihr Abitur gemacht, Germanistik und Journalistik studiert. Sie war an der Hamburger Journalistenschule. 1986 ging sie zum Praktikum in die Lokalredaktion des Tagesspiegel nach Westberlin. 1988 ist sie dort wieder weg, weil sich in der Lokalberichterstattung der eingeschlossenen Stadt alles wiederholte. Sie hat als freie Journalistin gearbeitet. Sie hat noch einmal studiert. Am Abend als die Mauer fiel, arbeitete sie einen Vortrag in Kunstgeschichte aus. Später bekam sie Post von der ostdeutschen Monatszeitschrift Das Magazin. Ob sie nicht was schreiben wolle, fragte man. 1994 war sie plötzlich Chefredakteurin des Heftes. Dann ist sie in den Ostteil Berlins gezogen.

Es sind keine spektakulären Geschichten, die Martina Rellin aus ihrem Leben erzählen kann. Sie berichten davon, wie eine ging und weiterging. Wie sie nach einem Ort suchte, an dem sie sich wohl fühlen konnte. Wie sie nach Gelegenheiten griff und auch keine Angst hatte, Chefin zu sein. Im Gegenteil. „Ich hätte da alt werden können“, sagt sie über das Magazin. Aber sie sollte nicht. Ein paar Tage nachdem sie die Zeitschrift verlassen musste, lief sie durch die Arkaden an der Schönhauser Allee. Da war sie immer hingegangen, wenn sie von irgendwoher kam, um Brötchen oder Kuchen mit in die Redaktion zu nehmen. Auch diesmal kaufte sie ein, doch nach dem Bezahlen stolperte sie über eine Frage: Und was mache ich jetzt? Das war wieder kein gutes Gefühl.

Dass sie sich schließlich angekommen fühlt, ist ihr gelungen wie anderen auch. Sie hat in Brandenburg ein Haus gebaut und denkt möglichst nicht daran, dass sie damit hoch verschuldet ist. Lieber redet sie. Davon, dass ihr Sohn im Grünen aufwächst, wo er Fahrrad fährt, ohne dass Mutter aufpassen muss. Dass sie mit Yoga begann, als ihr Vermieter in Berlin sie drangsalierte. Dass das Leben auf drei Stützen steht: Arbeit, Familie und Partnerschaft. Eine könne ruhig mal wegbrechen, sagt sie, denn da wären noch die anderen beiden. Nie sei ihr Leben sicher gewesen, die Arbeit war's nicht, das Geld nicht und ebenso wenig die Männer. Immer war irgendwas neu. Wie für die Ostdeutschen.

Einmal hat sie eine Frau interviewt, die gerade ein Bistro eröffnet hatte. „Coffee TOGO“, nannte sich der Laden. Wahrscheinlich afrikanisch, dachte Martina Rellin. Es hieß Coffee to go, Kaffee zum mitnehmen. Wie viele ihrer Mitmenschen hat sie das erst später kapiert.

Martina Rellin machte Erfahrungen, die nicht spektakulär waren. Jedoch kamen sie ihr bedeutend vor, weil sie sie mit Menschen teilte, zu denen sie eigentlich nicht gehörte. Sie hatte nach etwas Unbestimmtem gesucht und etwas Bestimmtes gefunden. Genauer ließ sich das beim besten Willen nicht beschreiben. Sie wollte ein Kind, aber bald nach der Geburt wieder arbeiten. Im Osten gab es niemanden, der das nicht verstand. Für ihren kaum Einjährigen bekam sie einen Kitaplatz. Sie ging auf Partys, wo niemand fragte, was sie beruflich mache. Möglicherweise war das Thema Arbeit nicht gerade amüsant. Vielleicht waren die Menschen im Osten wirklich anders. Aber wie anders? Und warum? Gab es Worte dafür? Ein starkes Argument?

Bald nach ihrer Zeit beim Magazin hat Martina Rellin ihr erstes Buch geschrieben. Es hat Plopp! gemacht, und der Titel war da. Sie interviewte Frauen, die heimliche Liebhaber haben. Irgendwann fragte sie sich: Wie finde ich eigentlich das, was die machen? Und beschloss, die Geschichten nicht zu bewerten. Das war erfolgreich. Der Stern druckte Auszüge. Das war im November 2001, die erste Titelgeschichte seit Wochen, in der es nicht ums Attentat auf die World Trade Center ging. Rellins verbotener Sex fungierte als Einladung an die Leser, aus Terror, Asche und Depression ins normale Leben zurückzukehren. Bald darauf wurde ihr Buch Bestseller genannt. Sie hat ein zweites geschrieben und dann noch eins über ehebrechende Männer.

Irgendwann saß sie in einer Talkrunde. Das Thema: Was ist ein Bestseller? Neben ihr kauerte ein Mann vom Fischer Verlag. Früher habe man erst ab einer Auflage von 250.000 von Bestsellern gesprochen, meinte er etwas resigniert. Was sollte Martina Rellin sagen? Die Zeiten hatten sich geändert, aber da konnte sie doch nichts dafür. Ihr Liebhaber-Bestseller hat sich seit 2001 rund 55.000 Mal verkauft. Die Agentur, die das Ost-Frauen-Buch betreut hat, ist vor etwa einem Jahr ohne Exposé, nur mit dem Namen der Autorin losgezogen. Martina Rellin konnte sich Rowohlt Berlin unter mehreren Verlagen aussuchen.

Es ist ihre Stärke, Leute zum Reden zu bringen, die sonst nichts sagen würden. Im Laufe der Jahre hat sie für ihre Bücher viele Frauen und Männer gesprochen und nie mehr aus den Augen verloren. Man empfiehlt sie als Gesprächspartnerin weiter. Zu einer Ost-Frau, die beim Interview etwas zurückhaltend war, hat sie gesagt: „Es ist ulkig für Sie, dass die Autorin dieser ganzen Bücher plötzlich in ihr Leben tritt, oder?“

Vielleicht überschätzt sie sich. Vielleicht kann man sich nur überschätzen, wenn man unter all den Medien- und Meinungsmachern tatsächlich ein Plätzchen gefunden hat, wie auch immer es beschaffen sein mag. „Ich nehme die Ostler anders wahr als die überregionale Presse“, sagt Martina Rellin. „Ich frage nicht: Was leisten die? Was kosten die? Was machen die mit den Fördergeldern? Waren die bei der Stasi? Sind die rechtsradikal?“

Nicht zu fragen, das scheint eine Grundhaltung von ihr geworden zu sein. Sie ließ die 14 Frauen in ihrem Buch einfach reden. Man erfährt, was sie im Leben gemacht haben. Dass sie Kinder bekommen, Berufe gewechselt, ein Hotel eröffnet oder sich auf die Natur besonnen haben. Ängste kommen zur Sprache, da ist Mut, Glaube, Zweifel. Allein es fehlt das Unverwechselbare. Es fehlt das Einzige, worauf so ein Buch nicht verzichten kann. Martina Rellin hat es weder gesucht, noch an dem gezweifelt, was sie vorfand. Als Entschädigung dafür, dass Ost-Frauen gewöhnlich nicht als besondere Spezies gehandelt werden, hat sie sich ihnen völlig ergeben. Es komme ja der Osten nicht mal als Wort vor, hat ihr Lektor zuweilen moniert. Das ergebe sich aus dem Erzählten von selbst, hat Rellin erwidert. Tatkräftige Frauen gebe es im Westen auch, sagte ein Freund. „Ich will den Satz ‚Im Osten wird nur gejammert' widerlegen“, antwortete sie.

Woran erkennt man ganz klar die Ost-Frauen? Am blauen Lidschatten? An den Kindern? Daran, dass sie mehr Orgasmen haben? Sagt irgend jemand in diesem Buch mal was dazu? Martina Rellin hat den Titel wie ein Kind zur Welt gebracht. Dann hat sie ihn allein gelassen.

Hat sie das? Eine Woche nach Erscheinen tauchten die Ost-Frauen auf Platz 22 der Spiegel-Bestsellerliste auf. Bald waren sie auf Platz elf. In Dresden wie bei all ihren Lesungen schaut die Autorin in gebannte Gesichter. Die Leute melden sich und erzählen aus ihrem Leben. Niemand vermisst Erklärungen. Niemandem ist irgendwas fremd. Die Leute lachen. „Sind Sie eine Ostfrau?“, fragen sie die Autorin. Die sitzt wie in einer perfekten Inszenierung. Das wolle sie erst zum Schluss beantworten, erwidert sie.

„Es gibt was, das haben nur Frauen im Osten. Selbstbewusstsein, bestimmte Werte“, sagt Martina Rellin. „Nein. Jetzt wo ich das ausspreche, klingt es verkehrt, es gibt auch Frauen im Westen … Ich will nichts Falsches sagen. Ich mag es einfach, wie die Ost-Frauen durch ihr Leben gehen.“

Etwa so wie diese Aussage ist ihr Buch. Es bringt nichts, aber viele finden was darin. Es ist nicht, was es verspricht, aber das Gefühl, betrogen worden zu sein, kommt kaum auf. „Werden Sie jetzt was über Frauen im Westen schreiben?“, will das Publikum in Dresden wissen. „Klar bin ich eine West-Frau?“, fragt Martina Rellin. „Da sehe ich das Thema nicht.“ Da kann es nicht Plopp! machen. Themen liegen nur dann auf der Straße, wenn jemand sie achtlos fallen gelassen hat.