Benjamin im Selbstversuch

Mein Gott Walter! An der Hochschule für Künste versuchte ein Symposion zu aktualisieren, was immer aktuell ist

ine epochale Figur: Der 1892 geborene Philosoph Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis erschoss, prägt noch heute die Kulturtheorie. Ein dreitägiges Kolloquium an der Hochschule für Künste diskutierte die „Aktualität von Walter Benjamins Passagen-Werk“. Die taz hat zugehört.

Vorspiel im Rektorat

Warum ein Symposion zur Aktualität von Walter Benjamins Passagenwerk? Peter Rautmann, Rektor der Hochschule der Künste und Gastgeber des Symposions, holt aus, und schon liegt ein Schuber mit zwei dicken Bänden auf dem Tisch. Seit 20 Jahren arbeite er zu Benjamin, als Alt-68-er fasziniere ihn die Verbindung von Kunst und Politik in dessen Werk.Wie war das gleich mit der Aktualität?

Benjamins Passagenwerk ist ein Torso geblieben, als sich der Autor 1940 das Leben nahm. Damit hinterließ er der Nachwelt nicht nur seinen Rückblick aufs 19. Jahrhundert, aus dem heraus er die Katastrophen des 20. zu erklären sucht, sondern auch die Lizenz zum Weiterschreiben. Die HfK-ler versuchen den kühnen Überschlag: Wenn Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war, dann soll diese Rolle im 20. Jahrhundert New York übernommen haben. Rautmann führt Marcel Duchamp als Zeugen an: Betrieb der zu Beginn des Jahrhunderts in Paris noch brave zweidimensionale Malerei, habe er in New York die wirklich richtungsweisende Form des Ready-mades gefunden. Aber was hat das alles mit Walter Benjamin zu tun? Die Spannung steigt…

1. Tag

…und fällt gleich wieder: Irving Wohlfahrt, Initiator der Bremer Benjamin-Arbeitsgruppe, eröffnet die Tagung. Benjamin, bedauert er, sei mit dem Untergang der sozialistischen Staaten aus der Mode gekommen. Von der „Aktualität“ des Philosophen spricht er schon gar nicht mehr, sondern lieber von seiner „Aktualisierbarkeit“.

Die AG Benjamin breitet ein psychedelisches Mosaik der Gedankensplitter aus: von Dante zu Leonard Cohen zu Habermas. Woher nur dieses merkwürdige Gefühl, man hätte die falsche Seminartür geöffnet? Benjamins Blick auf seine Gegenwart, meint Peter Rautmann, sei der eines Realisten gewesen, nicht eines Pessimisten. Seine Aktualisierer hingegen übertreffen sich in düsteren Bildern: Handysüchtige Studenten, das Daten-Kraut-und-Rüben des Internets, und, mein Gott Walter!, die Glotze. Die Welt ist schlecht: Dafür hätte auch ein Neil Postman-Kolloquium genügt. Die falsche Seminartür aber erweist sich als Dimensionstor der Nostalgie. Ganz nah an Benjamins Beschreibung des „verträumten Jahrhunderts“. Auf das blickt der allerdings mit analytischer Distanz zurück.

2. Tag

Aufhorchen! Klare Worte, steile Thesen. Wolfgang Kraushaar, Politologe am Hamburger Institut für Sozialforschung, stellt zwei architektonische Symbole gegenüber: Die Pariser Passagen,Traum- und Konsumwelten des 19. Jahrhunderts würden abgelöst durch New Yorks Wolkenkratzer, Wahrzeichen des kapitalistischen Fortschritts im 20. Jahrhundert. Um Manhattan kreisten schon früh Zerstörungsfantasien von Hitler über Brecht bis King Kong. Dann entspräche Benjamins Erster Weltkrieg dem 11. September 2001, der gerade diese „babylonischen“ Türme zu Fall brachte. Kein schlagender Beweis für die Welthauptstadt-These. Aber immerhin: ein Gedanke.

3. Tag

Perspektiven, so steil wie die Thesen. Damit der Diskurs nicht im theoretischen Elfenbeinturm Schwindelgefühl verursacht, begibt man sich auf die Suche nach der Welthauptstadt des 21. Jahrhunderts. Hilfsmittel ist die Linse von Peter Bialobrzeski, Professor für Fotografie an der HfK.

Das Schwindelgefühl bleibt: Bangkok, Shanghai, Singapur – Bilder vom „high density living“ in den rasant wachsenden Megastädten, deren Skyline sich im Tagesrhythmus ändere.

Und da ist sie wieder, die Nostalgie: Wie kann man bloß so schöne Bilder von einer so fürchterlichen Gegenwart machen?, fragt ein Teilnehmer entsetzt. Philosophen, die sich – wie Benjamin – mit den Medien ihrer Zeit auseinander setzen, seien rar, seufzte Peter Rautmann vor drei Tagen. Wer Benjamin noch aktueller machen will, muss früher aufstehen.

Annedore Belte