PETER AHRENS über PROVINZ
: Mit Norbert Blüm im Phantasialand

Was werde ich wohl einmal meinen Enkeln erzählen? Nichts, denn ich habe fast alles verpasst. Na ja, fast alles

Manchmal, wenn die Wolken tief hängen und im Fernsehen Reinhard Bütikofer redet, wenn also die Verzweiflung nicht fern ist, dann frage ich mich, was mich für diesen Beruf eigentlich ertüchtigt. Der Journalismus-Guru Wolf Schneider sagt, Neugier sei unverzichtbar.

Mich interessiert aber leider überhaupt nicht, ob zuletzt irgendein Moritz oder eine Diseuse aus Aserbaidschan einen Gesangswettbewerb drunten im Morgenlande für sich entscheidet. Ob Frau Schwan Professorin bleibt oder sich beruflich künftig verschlechtert und Ertüchtigungssprüche zu klopfen hat, lässt mich kalt, und selbst den Saturnalien auf dem Bremer Rathausmarkt konnte ich wenig beruflichen Lustgewinn entlocken.

Außerdem heißt es allenthalben, Dabeisein sei wichtig, zuweilen sei dies sogar alles, raunt es zwischen Istanbul und Leipzig dieser Tage. Ich kann mich nicht entsinnen, bei etwas wirklich Historischem je dabei gewesen zu sein. Ich habe Norbert Blüm mal im Phantasialand getroffen, als er mit einem Fliegenschwarm von Leibwächtern um sich herum in einer bunten Gondel sitzend in einen großen Drachenkopf hineingefahren ist. Außerdem habe ich Walter Giller einmal in einem Restaurant beim Verspeisen einer Schweinshaxe zugeschaut, aber wer kennt heute schon noch Walter Giller?

Ansonsten ist die Weltgeschichte weitgehend an mir vorbeigerauscht. Die nationale Gewissensfrage, wie und wo der Tag des Mauerfalls erlebt wurde, kann ich nicht beantworten. Ich vermute, ich war im Bett, es war schließlich November, ich war Student, und da liegt das Bett als Aufenthaltsort relativ nahe. Dafür weiß ich jedoch genau, dass ich die gastlichen Breiten von Laos und Kambodscha just in dem Moment verlassen habe, wo ein paar Millionen Hühner diese Länder erstmals seit Pol Pot wieder in die Hauptnachrichten gebracht haben. Vor zwei Jahren erlebte ich den Sommer in Polen, hielt meine Nase in die Tatra-Sonne und war auf der Rückreise sehr erstaunt, Kai Diekmanns Postille durchgehend mit Sandsack schleppenden Sachsen gefüllt zu sehen. Beim ersten Wimbledonsieg von Boris Becker lag ich mit Grippe im Bett, und dass Diana ein Rendezvous mit einem Betonpfeiler hatte, erfuhr ich dadurch, dass plötzlich extrem viel Elton John im Radio war.

Immer habe ich meinen Vater beneidet, der, wenn sein Leben langweilig zu werden drohte, darauf hinweisen konnte, dass er dereinst leibhaftig im Wankdorfstadion im Dauerregen gestanden, natürlich wie alle anderen nicht gewankt hat. Stattdessen war er wie die meisten schon Stunden vorm WM-Finale im Stadion gewesen, und weil keiner seinen mühsam errungenen Stehplatz hergeben wollte und es ohnehin regnete, ist auch während all der Zeit niemand auf Klo gegangen, sondern hat seinem Vordermann einfach auf die wasserabweisende Pelerine gepinkelt, von wo das Nass abperlte und im Schweizer Morast versickerte. Das sind die deutschen Tugenden neun Jahre nach dem großen Krieg gewesen, die am Ende die Ungarn in die Knie zwangen. Oder wie die Fernsehreporter so gerne sagten: Der Funken sprang von den Rängen über auf den Rasen.

Am Tag nach dem WM-Sieg sind mein Vater und noch ein paar Sportskumpel von ihm aufs Geratewohl zur deutschen Mannschaft ins Trainingslager nach Spiez gefahren und haben dem Team einen Besuch abgestattet. Sie seien sehr nett gewesen, es gibt ein altes Foto, da steht die Paderborner Delegation mit den Helden von Bern beisammen, rechts drängelt sich noch ein Alphornbläser ins Bild, der wohl immer zur Stelle war, wenn es etwas zu fotografieren gab.

So etwas würde ich gerne meinen Kindeskindern auch zu erzählen geben. Aber das Einzige, was ich vorzuweisen habe, ist, mir beim Abstieg von Borussia Mönchengladbach 1999 auf der Gegengerade am Bökelberg einen Sonnenbrand geholt zu haben. Das Spiel war mau, der Abstieg stand schon Wochen vorher fest. Unterdessen tobte gerade im Radio die aufregendste Schlusskonferenz, die die Bundesliga in ihrer Geschichte erlebt hat. Ich habe mir das anschließend erzählen lassen.

Fragen zum Verschlafen?kolumne@taz.deFreitag: Robin Alexander über SCHICKSALE